Occupy Wall Street
09.10.2011 um 03:09
Anfangs wurden die Wall-Street-Besetzer in New York belächelt. Doch aus ein paar Demonstranten entsteht eine Bewegung, die sich sogar nach Europa ausdehnt - und jetzt auch Deutschland erreicht. Doch was wollen die Aktivisten? Sieben von ihnen erzählen, wie sie die USA umkrempeln wollen.
Sie sind nicht mehr allein. Längst sind auch Rentner dabei, Geschäftsleute, Gewerkschaftsmitglieder, Professoren, Prominente, Politiker, Mütter mit Kindern, Veteranen mit Hunden; selbst Cops (in Zivil). Und Bankangestellte (inkognito).
"Dies ist nicht mehr nur meine Stimme oder seine Stimme oder ihre Stimme", rief der Filmemacher und Oscar-Preisträger Michael Moore ihnen zu, nach ihrem bisher größten Aufmarsch. "Dies ist unser aller Stimme."
"Occupy Wall Street", die kleine US-Protestbewegung, die seit Mitte September einen Platz unweit der New Yorker Wall Street besetzt, wächst. Ihren Märschen durch Lower Manhattan schließen sich inzwischen Abertausende an, beim jüngsten Protestzug waren es mehr als 10.000.
Im ganzen Land bilden sich Ableger: in Boston, Los Angeles, Chicago, Philadelphia, Miami. Der Blog Daily Kos zählt mehr als 200 "Solidar-Events und Facebook-Seiten". Hinzu kommt ein populärer Videoblog: "Wir sind 99 Prozent." Selbst in Deutschland lassen sich mittlerweile einige Aktivisten zu ähnlichen Protesten inspirieren. Für den 15. Oktober sind Demonstrationen in Frankfurt am Main, Berlin und Köln geplant.
Kampfansage an die Tea Party
In Washington lassen sie sich auf zwei Plätzen unweit des Weißen Hauses nieder. Auf ihren Plakaten ("Bringt unsere Truppen heim!", "Unternehmen raus aus der Politik!", "Mitgefühl statt Kapitalismus") gibt es teils Anspielungen auf die konservative Tea Party, als deren Gegenpol sich manche gerne sähen: Sie kopieren die Symbolik der Extremkonservativen mit einem großen "We the People"-Verfassungsfaksimile im Hintergrund der Bühne auf der Freedom Plaza.
Progressive Politiker stellen sich hinter sie. Kongress-Demokraten auch: "Die schweigende Mehrheit ist nicht mehr so schweigsam", lobte Fraktionschef John Larson, der vierthöchste Demokrat im US-Repräsentantenhaus, kürzlich.
Selbst US-Präsident Barack Obama kommt an ihnen nicht mehr vorbei. Bei seiner letzten Pressekonferenz am Donnerstag wurde er mehrfach nach "Occupy Wall Street" gefragt. "Offenkundig habe ich davon gehört", sagte er. Die Bewegung drücke "die Frustrationen aus, die das amerikanische Volk spürt", sagte er. Dann verlor er sich in Polit-Floskeln.
Gaukler, Anarcho-Kapellen, Soul-Sänger
Die wachsende Vielfalt der Bewegung zeigte sich gut am Mittwoch in New York, als zwei Märsche zu einem verschmolzen. Hier "Occupy Wall Street" mit ihrem karnevalistischen Klamauk, dort die ernsteren, etablierten Demonstranten: Lehrer, Dienstleister, Einzelhändler, Krankenpfleger, der amerikanische Gewerkschaftsbund AFL-CIO.
Die organisierten Gewerkschaften haben lange debattiert, ob sie sich den Aktivisten anschließen sollten. Immerhin gelingt denen, was ihnen seit Jahren misslingt: Aufmerksamkeit erregen. Die "Unions" bringen zwar mehr Menschen auf die Straße, im vergangenen Oktober zum Beispiel mehr als 100.000 in Washington. Doch keiner nimmt da mehr Notiz von.
Am Ende stellte sich die AFL-CIO-Führung hinter "Occupy Wall Street", schließlich hat man ja ähnliche Ziele. "Die Gewerkschaften müssen die Energie anzapfen und davon lernen", sagte Stuart Appelbaum, der Chef der Einzelhandelsgesellschaft RWDSU, der "New York Times". Der Kriegsrat von "Occupy Wall Street" akzeptierte die Offerte - unter einer Bedingung: Die Gewerkschaften dürften keine Entscheidungsbefugnis über die Proteste haben.
Und so trafen am Mittwochabend auf dem Foley Square ernsthafte ältere Damen mit Gauklern aufeinander, Anarcho-Kapellen mit Soul-Sängern, kriegsbemalte Kids mit Senioren. Und die Schilder, die sie hochhielten, trugen die gleiche Botschaft: Wir wollen endlich mitreden können.
Umstrittene Protestzeitung
Viele kritisieren, dass die Aktivisten keine "Agenda" haben, keine Liste von Forderungen. Doch genau das würde ihrer Natur widersprechen. "Die Medien wollen Soundbites", sagt der New Yorker Dustin McDonald. "Aber unser Land ist so kaputt, Soundbites können es nicht retten."
Jene Medien sind aufgewacht. Anfangs haben sie die Bewegung ignoriert. Jetzt haben CNN und alle anderen Networks ihre Satellitentrucks am Zuccotti-Park dauergeparkt, und ihre Reporter tun so, als seien sie alte Freunde der Aktivisten.
Die "New York Times" allerdings kann sich einen süffisanten Ton weiter nicht verkneifen, wenn sie über den "unerwarteten Erfolg" der Proteste schreibt. Und das "Wall Street Journal" mokiert sich darüber, dass sich die offizielle Demo-Zeitung "Occupied Wall Street Journal" offenbar "nicht mit traditioneller Berichterstattung abgibt".
Die Zeitung (Erstauflage 70.000) wird mit Spenden finanziert - die auch zu fließen scheinen; "Occupy Wall Street" hat nach eigenen Angaben inzwischen 40.000 Dollar auf dem Konto. Das Konto liegt natürlich nicht bei einer der verhassten Großbanken. Sondern bei der Amalgamated Bank, dem einzigen US-Institut, das im Vollbesitz der Gewerkschaften ist.
Auch so organisieren sich die Desorganisierten immer mehr. Im Zuccotti-Park haben sie professionelle Komitees gegründet, für Müll, Verpflegung, ärztliche Behandlung, Rechts- und Finanzfragen und Medienarbeit. Zweimal am Tag halten sie Vollversammlungen ab, um ihre gemeinsamen Belange zu diskutieren.
spiegel.de