Unruhen in Ägypten
21.08.2013 um 03:22apropos muslimbrüderschaft:
recht intressanter artikel:
Wer weint der Muslimbruderschaft eine Träne nach?
Mursis Sturz verschafft dem "arabischen Frühling" eine zweite Chance · Von Matthias Küntzel
Schon heute ist das Datum historisch: Am 3. Juli 2013 wurde der ägyptische Präsident Mohammed Mursi von einer Massenbewegung gestürzt. Die Muslimbruderschaft erlitt ausgerechnet in ihrer Hochburg Ägypten ihre bisher schwerste Niederlage.
Gewiss, auch in der Vergangenheit wurden Islamisten abgesetzt, so 1954, als Gamal Abdel Nasser die Muslimbruderschaft zerschlug. Oder 1992, als ein Militärputsch den islamistischen Wahlsieg in Algerien zunichtemachte. Hier mussten die Islamisten konkurrierenden Machtapparaten weichen. Sie konnten sich als Märtyrer und als die eigentlichen Repräsentanten der Bevölkerung präsentieren. Wie anders sieht es heute in Ägypten aus!
Hier hat nicht in das Militär sondern eine unerwartet massenhafte Bewegung den islamistischen Präsidenten zu Fall gebracht. Das militärische Moment – die offenkundig unblutige Festsetzung Mursis durch Soldaten – war notwendig. Ohne Gewaltandrohung wäre er nicht gewichen. Der Einsatz der Streitkräfte war Begleiterscheinung eines ägyptischen Aufstands, der am 30. Juni mit mehr als 17 Millionen Menschen die bislang größte Mobilisierung in der Geschichte des Landes auslöste.[1]
Die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung, die in ihrem Privatleben so muslimisch ist, wie eine Bevölkerung nur muslimisch sein kann – diese Mehrheit hat dem Islamismus und dessen Parole „Der Islam ist die Lösung“ eine eindrucksvolle Absage erteilt.
In Ägypten erreichte damit ein Aufbruch seinen bisherigen Höhepunkt, der mit den Massenprotesten gegen die Wahlfälschung in Iran im Juni 2009 begann und in den Massendemonstrationen gegen die islamistische Ennahda-Partei in Tunesien und den Taksim-Protesten gegen die islamistische Regierungspartei in der Türkei seine Fortsetzung fand. In all diesen Fällen haben ehemalige, säkulare oder moderate Muslime damit begonnen, sich der Zumutungen des Islamismus zu erwehren.
Natürlich stellen auch Mursis Opponenten keine geschlossene Gruppe dar. Als Verteidigungsminister Abdul Fattah el Sisi die Absetzung Mursis verkündete, saß nicht nur der bekannte Antiamerikaner Mohammed el-Baradei als Vertreter der Liberalen mit im Raum, sondern auch ein Sprecher der salafistischen Al-Nour-Bewegung, die den Sturz von Mursi forderte, weil dieser den „göttlichen“ Gesetze der Scharia zu wenig Bedeutung beigemessen habe.
Von einer im westlichen Sinne „progressiven“ Bewegung kann schon gar nicht die Rede sein. So zählte die millionenfach unterstützte Unterschriftenliste der „Tamarrud“-Bewegung, die für den 30. Juni mobilisierte, als eine der Mursi-Sünden dessen vermeintliche „Handlangerdienste für die USA“ mit auf, eine Unterstellung, die den Stellenwert der Verschwörungstheorie auch für dieses Lager illustriert.[2] Es war aber nicht allein die Wirtschaftskrise, die so viele Millionen auf die Straßen trieb, sondern ebenso die Skrupellosigkeit, mit der die Muslimbrüder der ägyptischen Gesellschaft ihrer Vorstellungen aufzuzwingen suchten. Ich möchte nur einige Beispiele für das, was man in Ägypten als Akhwna, als die schleichende „Vermuslimbruderisierung“ bezeichnet, erwähnen.
Aufhebung der Gewaltenteilung
Mursi hat bei der Präsidentschaftswahl im ersten Durchgang 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Bei der Stichwahl siegte er mit 51 Prozent denkbar knapp und auch nur deshalb, weil das Gros der nicht-islamistischen Wähler den mit dem alten Regime verbandelten Gegenkandidaten Ahmed Shafik um jeden Preis verhindern wollte.
Dennoch ließ Mursi im August 2012, nur sechs Wochen nach seinem Amtsantritt, neben der exekutiven auch die gesamte legislative Macht vom Militärrat auf sich selbst übertragen.[3] Im November 2012 setzte er auch die Judikative außer Kraft und ermächtige sich selbst, jedes Gerichtsurteil per Veto blockieren zu dürfen. Gleichzeitig verbot er den Gerichten, die von ihm erlassenen Dekrete anzufechten.[4] Spätestens jetzt konnte von Demokratie in Ägypten keine Rede mehr sein.
Verfassungsputsch
Es waren die Muslimbrüder und die noch radikaleren Salafisten, die Ende November 2012 den Entwurf einer Verfassung formulierten. Man merkte dies schon an ihrem Artikel 1, der die Bürger Ägyptens nicht länger als „Teil der arabischen Nation“ – wie in der Verfassung von 1971 – sondern als „Teil der arabischen und islamischen Nationen“ definierte, was Angehörige anderer Religionen per se zu Bürger zweiter Klasse machte.[5] „Diese Verfassung möchte aus Ägypten ein neues Afghanistan, ein Saudi-Arabien machen“, klagte der ägyptische Autor Alaa al-Aswani in einem Interview mit der „Zeit“. „Nach dem jetzigen Entwurf dürfen Kopten kein Alkohol trinken, Frauen wären nur halb so viel wert wie Männer, und Schiiten – von denen es zwar nur wenige in Ägypten gibt – würden als vom Glauben Abgefallene gelten, die den Tod verdienen.“[6]
Obwohl der Verfassungsentwurf massive Proteste auslöste, ließ ihn Mursi bereits am 15. Dezember 2012 per Referendum „verabschieden“, wobei die Muslimbrüder alles taten, um die oft analphabetisierte Landbevölkerung zu einem „Ja“ zu veranlassen: Man erklärte Wahlenthaltung und Nein-Stimme zur religiösen Sünde und schüchterte zudem die Besucher der Wahllokale ein. Dennoch lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 31 Prozent, von denen nur 64 Prozent der neuen Verfassung zustimmten. Dies bedeutet, dass sich weniger als 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung zur neuen Verfassung bekannte.[7]
Frauenunterdrückung
Im März 2013 legte die Muslimbruderschaft formell Einspruch gegen den Entwurf einer UN-Resolution zur Verurteilung der Gewalt gegen Frauen ein. Als Begründung listete sie die folgenden Bestandteile ihres Programms auf: Erstens müsse die Möglichkeit einer Ehefrau, zu verreisen, zu arbeiten oder ein Verhütungsmittel anzuwenden von der Zustimmung des Ehemannes abhängig gemacht werden. Zweitens dürften Töchter nicht dieselben Erbrechte besitzen wie Söhne. Drittens dürfe es Frauen darf nicht gestattet werden, ihre Ehemänner wegen Vergewaltigung zu verklagen. Viertens dürfe der Ehemann gegenüber seiner Frau keine „Partnerschaft“ eingehen, sondern müsse stattdessen eine „Wächterrolle“ übernehmen.[8]
Diese an das Mittelalter erinnernden Zumutungen waren mit der Regierungspolitik Mursis zwar nicht identisch, hinterließen aber gleichwohl ihre Spuren in der Verfassung, die z.B. im Vergleich zur Verfassung von 1971 auf die Festlegung eines Mindestalters für die Verheiratung von Mädchen verzichtet und die „Familienverpflichtungen der Frau“ betont.[9]
Verbot der Gotteslästerung
In der mittlerweile außer Kraft gesetzten Mursi-Verfassung wurde „auch die implizite Beleidigung oder der implizite Missbrauch aller religiöser Botschaften und Propheten“ unter Strafe gestellt.[10] Diese Form der Kriminalisierung wurde jedoch bereits praktiziert, bevor es die Verfassung gab. So verurteilte man einen erklärten Atheisten zu drei Jahre Gefängnis, weil man kritische Stellungnahmen über den Islam und das Christentum auf seinem Computer fand.[11] Ein christlicher Lehrer aus Luxor wurde zur Zahlung von 14.000 US-Dollar verurteilt, weil er den Propheten Mohammed beleidigt haben soll. Ein Autor erhielt fünf Jahre Gefängnis, weil er sich für den Atheismus einsetzte und ein christlicher Rechtsanwalt wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er in einem Privatgespräch den Islam beleidigt haben soll. Seit Anfang 2011 sollen 24 Richtersprüche wegen Blasphemie gefällt worden sein, berichtete im Juni 2013 die New York Times, davon 13 mit Gefängnisstrafen.[12]
Unterdrückung der Meinungsfreiheit
Schon zu Beginn seiner Amtszeit setzte Mursi die Chefredakteure der staatlichen Zeitungen ab. Für die Ernennung neuer Chefredakteure wurde der Schura-Rat, das von der Muslimbruderschaft dominierte Oberhaus des Parlaments, verantwortlich gemacht.[13] Doch auch die nichtstaatlichen Medien hatten zu leiden: Wegen einer angeblichen „Beschädigung des Präsidenten durch gesetzlich strafbare Sätze und Wörter“ wurde eine Ausgabe der oppositionellen Tageszeitung „Al Dustur“ beschlagnahmt. Wegen „Beleidigung“ des Präsidenten wurde gegen den Inhaber eines TV-Senders ein Ausreiseverbot verhängt.[14]
Mehr noch: Gegen den deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad sprach das Regime eine Todesfatwa, aus, die in den Medien der Muslimbruderschaft Verbreitung fand. „Er muss getötet werden, und seine Reue wird nicht akzeptiert“[15], erklärte Assem Abdel Magid, ein Mitglied der Gruppe Al Gamaa al Islamija und radikaler Islamist, den Präsident Mursi nach jener Aussage nicht nur empfing, sondern am 15. Juni 2013 vor laufender Kamera demonstrativ umarmte.[16]
Obwohl schließlich ein bilaterales Kulturabkommen die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo legalisiert und schützt, ließ das Regime im Juni 2013 43 Mitarbeiter internationaler Stiftungen und NGOs, darunter zwei führende Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren verurteilen.[17]
Westerwelles Parteinahme
So enthusiastisch die Masse der ägyptischen Bevölkerung das Ende dieser schwarzen Periode feierte, so entsetzt hat Außenminister Westerwelle auf Mursis Absetzung reagiert. Am Folgetag erklärte er:
„Das ist ein schwerer Rückschlag für die Demokratie in Ägypten. Es ist dringlich, dass Ägypten schnellstmöglich zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückkehrt. Es ist ein schwerwiegender Vorgang, dass die ägyptischen Streitkräfte die verfassungsmäßige Ordnung ausgesetzt und den Präsidenten seiner Amtsbefugnisse enthoben haben. Das besorgt mich tief. Eine solche Aussetzung der demokratischen Ordnung ist keine nachhaltige Lösung der großen Probleme, vor denen Ägypten steht.“[18]
Man bedenke: Während die ägyptische Bevölkerung Mohammed Mursi nach Außerkraft-Setzung der Gewaltenteilung als neuen Pharao charakterisiert, spricht Westerwelle von einer „demokratischen Ordnung“, die nicht Mohammed Morsi, sondern dessen Gegner „ausgesetzt“ haben sollen. Während der ägyptische Autor al-Aswani die „faschistische Verfassung“ beklagte, hält es der deutsche Außenminister für „dringlich“ , dass die ägyptische Bevölkerung „schnellstmöglich“ zu jener „verfassungsmäßigen Ordnung“ mit all den genannten Verstößen gegen Gleichheitsgrundsätze „zurückkehrt“. Und während Westerwelle trotz der Todesfatwa gegen Hamed Abdel-Samad und trotz der Gefängnisstrafen gegen Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung von „Demokratie in Ägypten“ spricht, macht er letztendlich jene 17 Millionen, sich mit der Willkür nicht länger abfinden wollen, für den „schweren Rückschlag für die Demokratie in Ägypten“ verantwortlich.
Guido Westerwelle suggeriert, in Ägypten habe unter der Führung der Muslimbruderschaft Demokratie geherrscht; die Islamisten hätten mit der Demokratie ihren Frieden gemacht. In Wirklichkeit haben sie den Krieg, zu dem sie ihr eigenes Programm verpflichtet, mit den Instrumenten der Demokratie fortgesetzt.
Der 3. Juli 2013 bedeutet keinen Rückschlag für die Demokratie, wie es Guido Westerwelle suggeriert, sondern einen Rückschlag für jene Außenpolitiker, die sich auf den neuen Partner Mursi ebenso unkritisch stützten wie zuvor auf Mubarak. Er bedeutet einen Rückschlag für jene, die den Kampf vieler Ägypterinnen und Ägypter für Freiheits- und Minderheitenrechte, wie wir sie in den westlichen Gesellschaften für selbstverständlich halten, ignoriert und damit verraten haben. Seit dem 3. Juli wird hierfür die Rechnung präsentiert: „Dass Präsident Obama von den Gegnern Mursis als Unterstützer des Terrorismus gebrandmarkt wird, dass er diskreditiert ist, muss zu denken geben“, räumt die FAZ mit Blickk auf die Bundesregierung ein.[19]
Unterworfenes Volk
„Eine Nation, die sich von ihrem Tyrann befreien will und sich nicht von seiner Propaganda befreit, ist immer noch ein unterworfenes Volk“, hat der algerische Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Boulem Sansal, erklärt. „Dies gesagt, muss man sich klar machen, wie schwierig dies ist; den Terrorismus zu bekämpfen ist nichts gegen die titanische Aufgabe, die darin besteht, die ,Ställe des Augias auszumisten‘, um all diesen magisch-religiös-kulturell-politischen Plunder hinauszuwerfen, der in den Jahrzehnten der Tyrannei und den Jahrhunderten der tödlichen religiösen Lehre in die Gene der arabischen Völker gesät wurde.“[20]
Zu den „magisch-religiös-kulturell-politischen“ Plunderstücken, die aus den Köpfen und Seelen auch der Mursi-Gegner hinausgeworfen werden sollten, gehört der Hass auf Israel, hat doch der desolate Zustand der ägyptischen Wirtschaft – und damit die Perspektive der Anti-Mursi-Bewegung – in erster Linie mit dem Israel-Boykott zu tun.
Israel ist nicht nur eines der bedeutendsten High-Tech-Länder der Welt sondern auch führend bei der Bewältigung von Problemen der Land- und Bewässerungswirtschaft. Wenn Ägypten seine politisch motivierte Selbstblockade aufgäbe, den Friedensvertrag mit Israel mit Leben erfüllte und bereit wäre, mit Israel und anderen interessierten Staaten eine Wirtschaftsunion nach dem Vorbild der europäischen Einigung aufzubauen – dann, nur dann, stünde einem wirtschaftlichen Aufschwung und der Festigung liberaler Werte nichts im Wege.
Solange es der Antisemitismus aber vermag, eine solche gedeihliche Zusammenarbeit zu verunmöglichen, wird sich auch die Muslimbruderschaft von ihrer gegenwärtigen ideologischen Krise wieder erholen und früher oder später neue Mitglieder rekrutieren. Der 3. Juli hat zwar neue Möglichkeiten geschaffen, wie sie aber genutzt werden, ist offen.
http://www.matthiaskuentzel.de/contents/wer-weint-der-muslimbruderschaft-eine-traene-nach
recht intressanter artikel:
Wer weint der Muslimbruderschaft eine Träne nach?
Mursis Sturz verschafft dem "arabischen Frühling" eine zweite Chance · Von Matthias Küntzel
Schon heute ist das Datum historisch: Am 3. Juli 2013 wurde der ägyptische Präsident Mohammed Mursi von einer Massenbewegung gestürzt. Die Muslimbruderschaft erlitt ausgerechnet in ihrer Hochburg Ägypten ihre bisher schwerste Niederlage.
Gewiss, auch in der Vergangenheit wurden Islamisten abgesetzt, so 1954, als Gamal Abdel Nasser die Muslimbruderschaft zerschlug. Oder 1992, als ein Militärputsch den islamistischen Wahlsieg in Algerien zunichtemachte. Hier mussten die Islamisten konkurrierenden Machtapparaten weichen. Sie konnten sich als Märtyrer und als die eigentlichen Repräsentanten der Bevölkerung präsentieren. Wie anders sieht es heute in Ägypten aus!
Hier hat nicht in das Militär sondern eine unerwartet massenhafte Bewegung den islamistischen Präsidenten zu Fall gebracht. Das militärische Moment – die offenkundig unblutige Festsetzung Mursis durch Soldaten – war notwendig. Ohne Gewaltandrohung wäre er nicht gewichen. Der Einsatz der Streitkräfte war Begleiterscheinung eines ägyptischen Aufstands, der am 30. Juni mit mehr als 17 Millionen Menschen die bislang größte Mobilisierung in der Geschichte des Landes auslöste.[1]
Die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung, die in ihrem Privatleben so muslimisch ist, wie eine Bevölkerung nur muslimisch sein kann – diese Mehrheit hat dem Islamismus und dessen Parole „Der Islam ist die Lösung“ eine eindrucksvolle Absage erteilt.
In Ägypten erreichte damit ein Aufbruch seinen bisherigen Höhepunkt, der mit den Massenprotesten gegen die Wahlfälschung in Iran im Juni 2009 begann und in den Massendemonstrationen gegen die islamistische Ennahda-Partei in Tunesien und den Taksim-Protesten gegen die islamistische Regierungspartei in der Türkei seine Fortsetzung fand. In all diesen Fällen haben ehemalige, säkulare oder moderate Muslime damit begonnen, sich der Zumutungen des Islamismus zu erwehren.
Natürlich stellen auch Mursis Opponenten keine geschlossene Gruppe dar. Als Verteidigungsminister Abdul Fattah el Sisi die Absetzung Mursis verkündete, saß nicht nur der bekannte Antiamerikaner Mohammed el-Baradei als Vertreter der Liberalen mit im Raum, sondern auch ein Sprecher der salafistischen Al-Nour-Bewegung, die den Sturz von Mursi forderte, weil dieser den „göttlichen“ Gesetze der Scharia zu wenig Bedeutung beigemessen habe.
Von einer im westlichen Sinne „progressiven“ Bewegung kann schon gar nicht die Rede sein. So zählte die millionenfach unterstützte Unterschriftenliste der „Tamarrud“-Bewegung, die für den 30. Juni mobilisierte, als eine der Mursi-Sünden dessen vermeintliche „Handlangerdienste für die USA“ mit auf, eine Unterstellung, die den Stellenwert der Verschwörungstheorie auch für dieses Lager illustriert.[2] Es war aber nicht allein die Wirtschaftskrise, die so viele Millionen auf die Straßen trieb, sondern ebenso die Skrupellosigkeit, mit der die Muslimbrüder der ägyptischen Gesellschaft ihrer Vorstellungen aufzuzwingen suchten. Ich möchte nur einige Beispiele für das, was man in Ägypten als Akhwna, als die schleichende „Vermuslimbruderisierung“ bezeichnet, erwähnen.
Aufhebung der Gewaltenteilung
Mursi hat bei der Präsidentschaftswahl im ersten Durchgang 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Bei der Stichwahl siegte er mit 51 Prozent denkbar knapp und auch nur deshalb, weil das Gros der nicht-islamistischen Wähler den mit dem alten Regime verbandelten Gegenkandidaten Ahmed Shafik um jeden Preis verhindern wollte.
Dennoch ließ Mursi im August 2012, nur sechs Wochen nach seinem Amtsantritt, neben der exekutiven auch die gesamte legislative Macht vom Militärrat auf sich selbst übertragen.[3] Im November 2012 setzte er auch die Judikative außer Kraft und ermächtige sich selbst, jedes Gerichtsurteil per Veto blockieren zu dürfen. Gleichzeitig verbot er den Gerichten, die von ihm erlassenen Dekrete anzufechten.[4] Spätestens jetzt konnte von Demokratie in Ägypten keine Rede mehr sein.
Verfassungsputsch
Es waren die Muslimbrüder und die noch radikaleren Salafisten, die Ende November 2012 den Entwurf einer Verfassung formulierten. Man merkte dies schon an ihrem Artikel 1, der die Bürger Ägyptens nicht länger als „Teil der arabischen Nation“ – wie in der Verfassung von 1971 – sondern als „Teil der arabischen und islamischen Nationen“ definierte, was Angehörige anderer Religionen per se zu Bürger zweiter Klasse machte.[5] „Diese Verfassung möchte aus Ägypten ein neues Afghanistan, ein Saudi-Arabien machen“, klagte der ägyptische Autor Alaa al-Aswani in einem Interview mit der „Zeit“. „Nach dem jetzigen Entwurf dürfen Kopten kein Alkohol trinken, Frauen wären nur halb so viel wert wie Männer, und Schiiten – von denen es zwar nur wenige in Ägypten gibt – würden als vom Glauben Abgefallene gelten, die den Tod verdienen.“[6]
Obwohl der Verfassungsentwurf massive Proteste auslöste, ließ ihn Mursi bereits am 15. Dezember 2012 per Referendum „verabschieden“, wobei die Muslimbrüder alles taten, um die oft analphabetisierte Landbevölkerung zu einem „Ja“ zu veranlassen: Man erklärte Wahlenthaltung und Nein-Stimme zur religiösen Sünde und schüchterte zudem die Besucher der Wahllokale ein. Dennoch lag die Wahlbeteiligung bei lediglich 31 Prozent, von denen nur 64 Prozent der neuen Verfassung zustimmten. Dies bedeutet, dass sich weniger als 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung zur neuen Verfassung bekannte.[7]
Frauenunterdrückung
Im März 2013 legte die Muslimbruderschaft formell Einspruch gegen den Entwurf einer UN-Resolution zur Verurteilung der Gewalt gegen Frauen ein. Als Begründung listete sie die folgenden Bestandteile ihres Programms auf: Erstens müsse die Möglichkeit einer Ehefrau, zu verreisen, zu arbeiten oder ein Verhütungsmittel anzuwenden von der Zustimmung des Ehemannes abhängig gemacht werden. Zweitens dürften Töchter nicht dieselben Erbrechte besitzen wie Söhne. Drittens dürfe es Frauen darf nicht gestattet werden, ihre Ehemänner wegen Vergewaltigung zu verklagen. Viertens dürfe der Ehemann gegenüber seiner Frau keine „Partnerschaft“ eingehen, sondern müsse stattdessen eine „Wächterrolle“ übernehmen.[8]
Diese an das Mittelalter erinnernden Zumutungen waren mit der Regierungspolitik Mursis zwar nicht identisch, hinterließen aber gleichwohl ihre Spuren in der Verfassung, die z.B. im Vergleich zur Verfassung von 1971 auf die Festlegung eines Mindestalters für die Verheiratung von Mädchen verzichtet und die „Familienverpflichtungen der Frau“ betont.[9]
Verbot der Gotteslästerung
In der mittlerweile außer Kraft gesetzten Mursi-Verfassung wurde „auch die implizite Beleidigung oder der implizite Missbrauch aller religiöser Botschaften und Propheten“ unter Strafe gestellt.[10] Diese Form der Kriminalisierung wurde jedoch bereits praktiziert, bevor es die Verfassung gab. So verurteilte man einen erklärten Atheisten zu drei Jahre Gefängnis, weil man kritische Stellungnahmen über den Islam und das Christentum auf seinem Computer fand.[11] Ein christlicher Lehrer aus Luxor wurde zur Zahlung von 14.000 US-Dollar verurteilt, weil er den Propheten Mohammed beleidigt haben soll. Ein Autor erhielt fünf Jahre Gefängnis, weil er sich für den Atheismus einsetzte und ein christlicher Rechtsanwalt wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er in einem Privatgespräch den Islam beleidigt haben soll. Seit Anfang 2011 sollen 24 Richtersprüche wegen Blasphemie gefällt worden sein, berichtete im Juni 2013 die New York Times, davon 13 mit Gefängnisstrafen.[12]
Unterdrückung der Meinungsfreiheit
Schon zu Beginn seiner Amtszeit setzte Mursi die Chefredakteure der staatlichen Zeitungen ab. Für die Ernennung neuer Chefredakteure wurde der Schura-Rat, das von der Muslimbruderschaft dominierte Oberhaus des Parlaments, verantwortlich gemacht.[13] Doch auch die nichtstaatlichen Medien hatten zu leiden: Wegen einer angeblichen „Beschädigung des Präsidenten durch gesetzlich strafbare Sätze und Wörter“ wurde eine Ausgabe der oppositionellen Tageszeitung „Al Dustur“ beschlagnahmt. Wegen „Beleidigung“ des Präsidenten wurde gegen den Inhaber eines TV-Senders ein Ausreiseverbot verhängt.[14]
Mehr noch: Gegen den deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad sprach das Regime eine Todesfatwa, aus, die in den Medien der Muslimbruderschaft Verbreitung fand. „Er muss getötet werden, und seine Reue wird nicht akzeptiert“[15], erklärte Assem Abdel Magid, ein Mitglied der Gruppe Al Gamaa al Islamija und radikaler Islamist, den Präsident Mursi nach jener Aussage nicht nur empfing, sondern am 15. Juni 2013 vor laufender Kamera demonstrativ umarmte.[16]
Obwohl schließlich ein bilaterales Kulturabkommen die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo legalisiert und schützt, ließ das Regime im Juni 2013 43 Mitarbeiter internationaler Stiftungen und NGOs, darunter zwei führende Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren verurteilen.[17]
Westerwelles Parteinahme
So enthusiastisch die Masse der ägyptischen Bevölkerung das Ende dieser schwarzen Periode feierte, so entsetzt hat Außenminister Westerwelle auf Mursis Absetzung reagiert. Am Folgetag erklärte er:
„Das ist ein schwerer Rückschlag für die Demokratie in Ägypten. Es ist dringlich, dass Ägypten schnellstmöglich zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückkehrt. Es ist ein schwerwiegender Vorgang, dass die ägyptischen Streitkräfte die verfassungsmäßige Ordnung ausgesetzt und den Präsidenten seiner Amtsbefugnisse enthoben haben. Das besorgt mich tief. Eine solche Aussetzung der demokratischen Ordnung ist keine nachhaltige Lösung der großen Probleme, vor denen Ägypten steht.“[18]
Man bedenke: Während die ägyptische Bevölkerung Mohammed Mursi nach Außerkraft-Setzung der Gewaltenteilung als neuen Pharao charakterisiert, spricht Westerwelle von einer „demokratischen Ordnung“, die nicht Mohammed Morsi, sondern dessen Gegner „ausgesetzt“ haben sollen. Während der ägyptische Autor al-Aswani die „faschistische Verfassung“ beklagte, hält es der deutsche Außenminister für „dringlich“ , dass die ägyptische Bevölkerung „schnellstmöglich“ zu jener „verfassungsmäßigen Ordnung“ mit all den genannten Verstößen gegen Gleichheitsgrundsätze „zurückkehrt“. Und während Westerwelle trotz der Todesfatwa gegen Hamed Abdel-Samad und trotz der Gefängnisstrafen gegen Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung von „Demokratie in Ägypten“ spricht, macht er letztendlich jene 17 Millionen, sich mit der Willkür nicht länger abfinden wollen, für den „schweren Rückschlag für die Demokratie in Ägypten“ verantwortlich.
Guido Westerwelle suggeriert, in Ägypten habe unter der Führung der Muslimbruderschaft Demokratie geherrscht; die Islamisten hätten mit der Demokratie ihren Frieden gemacht. In Wirklichkeit haben sie den Krieg, zu dem sie ihr eigenes Programm verpflichtet, mit den Instrumenten der Demokratie fortgesetzt.
Der 3. Juli 2013 bedeutet keinen Rückschlag für die Demokratie, wie es Guido Westerwelle suggeriert, sondern einen Rückschlag für jene Außenpolitiker, die sich auf den neuen Partner Mursi ebenso unkritisch stützten wie zuvor auf Mubarak. Er bedeutet einen Rückschlag für jene, die den Kampf vieler Ägypterinnen und Ägypter für Freiheits- und Minderheitenrechte, wie wir sie in den westlichen Gesellschaften für selbstverständlich halten, ignoriert und damit verraten haben. Seit dem 3. Juli wird hierfür die Rechnung präsentiert: „Dass Präsident Obama von den Gegnern Mursis als Unterstützer des Terrorismus gebrandmarkt wird, dass er diskreditiert ist, muss zu denken geben“, räumt die FAZ mit Blickk auf die Bundesregierung ein.[19]
Unterworfenes Volk
„Eine Nation, die sich von ihrem Tyrann befreien will und sich nicht von seiner Propaganda befreit, ist immer noch ein unterworfenes Volk“, hat der algerische Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Boulem Sansal, erklärt. „Dies gesagt, muss man sich klar machen, wie schwierig dies ist; den Terrorismus zu bekämpfen ist nichts gegen die titanische Aufgabe, die darin besteht, die ,Ställe des Augias auszumisten‘, um all diesen magisch-religiös-kulturell-politischen Plunder hinauszuwerfen, der in den Jahrzehnten der Tyrannei und den Jahrhunderten der tödlichen religiösen Lehre in die Gene der arabischen Völker gesät wurde.“[20]
Zu den „magisch-religiös-kulturell-politischen“ Plunderstücken, die aus den Köpfen und Seelen auch der Mursi-Gegner hinausgeworfen werden sollten, gehört der Hass auf Israel, hat doch der desolate Zustand der ägyptischen Wirtschaft – und damit die Perspektive der Anti-Mursi-Bewegung – in erster Linie mit dem Israel-Boykott zu tun.
Israel ist nicht nur eines der bedeutendsten High-Tech-Länder der Welt sondern auch führend bei der Bewältigung von Problemen der Land- und Bewässerungswirtschaft. Wenn Ägypten seine politisch motivierte Selbstblockade aufgäbe, den Friedensvertrag mit Israel mit Leben erfüllte und bereit wäre, mit Israel und anderen interessierten Staaten eine Wirtschaftsunion nach dem Vorbild der europäischen Einigung aufzubauen – dann, nur dann, stünde einem wirtschaftlichen Aufschwung und der Festigung liberaler Werte nichts im Wege.
Solange es der Antisemitismus aber vermag, eine solche gedeihliche Zusammenarbeit zu verunmöglichen, wird sich auch die Muslimbruderschaft von ihrer gegenwärtigen ideologischen Krise wieder erholen und früher oder später neue Mitglieder rekrutieren. Der 3. Juli hat zwar neue Möglichkeiten geschaffen, wie sie aber genutzt werden, ist offen.
http://www.matthiaskuentzel.de/contents/wer-weint-der-muslimbruderschaft-eine-traene-nach