Was ist auf der Gorch Fock los?
25.01.2011 um 11:11
Wir erinnern uns:
04.09.2008 SPIEGEL
Vermisste "Gorch Fock"-Kadettin
"Eine Hand fürs Schiff, eine Hand für sich selbst"
Von Hasnain Kazim
Unglück auf der "Gorch Fock": Eine junge Offiziersanwärterin ging bei nächtlicher Fahrt unter vollen Segeln über Bord. Warum, ist ein Rätsel. Die Wahrscheinlichkeit, die Kadettin lebend zu finden, sinkt stündlich - aber die Retter haben die Hoffnungen noch nicht aufgegeben.
Hamburg - Die Ausbilder hatten den 107 Offiziersanwärtern zum Dienstantritt an Bord der "Gorch Fock" noch einen Rat mitgegeben, an den die jungen Soldaten bei ihrer Arbeit an Bord immer denken mögen: "Eine Hand fürs Schiff, eine Hand für sich selbst." Man solle also stets auch an die eigene Sicherheit denken, soll dieser Grundsatz bedeuten.
Trotzdem ist in der Nacht zu Donnerstag eine junge Offiziersanwärterin verunglückt: Die 18-Jährige aus Nordrhein-Westfalen fiel kurz vor Mitternacht bei Fahrt unter vollen Segeln ins Wasser. "Wir können zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, wie es dazu kam", sagt ein Marinesprecher SPIEGEL ONLINE. Das Schiff habe "ruhig und stabil" im Wasser gelegen. Fest stehe, dass die Frau nicht von einem Mast, sondern vom Oberdeck aus ins Wasser fiel. "Es gibt zwar keinen Zeugen, der den Fall ins Wasser gesehen hat", sagt er, "aber ein Soldat hat einen Schatten bemerkt und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, nämlich dass da jemand über Bord gegangen ist."
Sofort ließ der wachhabende Offizier die Seewache durchzählen - eine Frau fehlte. Es wehte ein Wind der Stärke sieben, ein "steifer Wind", wie die Seefahrer sagen, mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 Stundenkilometern. Die Wellen in der Nordsee, etwa zwölf Seemeilen (20 Kilometer) nördlich der Insel Norderney, waren etwa zwei Meter hoch - nicht viel im Vergleich zu dem, was sich gelegentlich in der Deutschen Bucht abspielt. Doch es war stockdunkel, weder die "Gorch Fock" noch ihre beiden grauen motorisierten Schlauchboote haben Suchscheinwerfer.
Der Offizier befahl ein "Mann über Bord"-Manöver: Als erstes wurde eine Rettungsboje ins Wasser geworfen, eine weiße, etwa eineinhalb Meter lange Kapsel, die sich im Wasser zu einem schwimmenden Zelt entfaltet. Wenn die Person im Wasser nicht ohnmächtig ist oder in einen Sog gerät, hat sie gute Chancen, zu dieser Insel zu schwimmen, hineinzuklettern und auf Rettung zu warten. Die Stammbesatzung der "Gorch Fock" übt das "Mann über Bord"-Manöver regelmäßig, jeder Marinesoldat hat außerdem in einer Schwimmhalle im holsteinischen Neustadt das Klettern in die Rettungsinsel gelernt, bevor er erstmals auf einem Marineschiff zur See fährt.
War die Frau zum Ende ihrer Segelwache übermüdet?
Der Kommandant der "Gorch Fock", Norbert Schatz, wurde sofort informiert, die gesamte Besatzung geweckt. Die diensthabende Segelwache, zu der auch die verschwundene Soldatin gehörte, stoppte das Schiff. Nach einem etwa einen Kilometer langen Bremsweg stand die "Gorch Fock", die Rettungsinsel markierte die Stelle, an der das Fehlen der Frau bemerkt wurde. Das Schiff drehte, die Rettungsboote fuhren im Kielwasser der "Gorch Fock" in Richtung Rettungsinsel, doch die Frau wurde nicht entdeckt.
Die Besatzung rief per Funk Hilfe an, Schiffe der Bundespolizei und der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger waren rasch zur Stelle. Hubschrauber der Bundeswehr und der niedersächsischen Polizei und Marineflugzeuge, sogenannte Seefernaufklärer, suchten das Gebiet ab - bislang erfolglos.
Die Soldatin war in die 30-köpfige Segelwache von 20 bis 24 Uhr eingeteilt. Die Besatzungsmitglieder tragen während ihrer Wache keine Schwimmwesten - dies wäre bei der Arbeit an Bord, vor allem beim Klettern in den Masten, hinderlich. Gerade beim "Aufentern" gilt der Grundsatz, trotz aller Eile sorgfältig und mit sicherem Griff zu klettern. Anders ist eine Sicherung an Bord der "Gorch Fock" nicht möglich, allein aus technischen Gründen. Erst beim Erreichen der Arbeitsposition auf den Rahen sichern sich die Kadetten mit einem Sicherheitsgurt, an dem ein Karabinerhaken angebracht ist.
In der Marine rätselt man nun, ob die Frau an Oberdeck gestolpert ist oder sich fahrlässig zu weit über die Reling gebeugt hat. War sie zum Ende ihrer Segelwache übermüdet? "Wir werden die Unglücksursachen aufklären", sagt der Marinesprecher.
"Die Besatzung muss erst einmal zur Ruhe finden"
Dazu soll die "Gorch Fock" nun nicht, wie vorgesehen, Hamburg einen Besuch abstatten, sondern vorerst in den Marinestützpunkt nach Wilhelmshaven fahren. Ob die 148. Auslandsausbildungsreise - geplant sind die weiteren Ziele Dublin, Lissabon, Cadiz und Cherbourg, bevor die "Gorch Fock" am 12. Dezember wieder im Heimathafen Kiel festmachen soll - fortgesetzt wird, ist noch offen. "Sehr wahrscheinlich wird die Fahrt aber stattfinden", heißt es bei der Marine. "Die Besatzung muss erst einmal zur Ruhe finden, es wird den Besatzungsmitgliedern auch psychologische Hilfe angeboten."
Und was, wenn jemand nicht mehr mitfahren möchte?
"Wir zwingen niemanden", sagt der Sprecher.
In der 50-jährigen Geschichte der "Gorch Fock" wurden bisher knapp 14.000 angehende Offiziere und Unteroffiziere ausgebildet. In dieser Zeit gab es fünf tödliche Unfälle. 2002 starb ein 19-Jähriger nach einem Sturz aus der Takelage. 1998 fiel ein 19-Jähriger aus dem Großmast aus zwölf Metern Höhe auf die Planken. Der Offiziersanwärter erlag wenig später seinen Verletzungen in einem schwedischen Krankenhaus, in das er per Hubschrauber geflogen wurde. Erst vergangene Woche war ein junger Soldat in den Kieler Hafen gestürzt, als er im unteren Teil des Mastes ausrutschte. Der 18-Jährige wurde dabei leicht verletzt. Er ist nach Angaben der Marine wieder an Bord der "Gorch Fock".
Noch haben die Marineleute die Hoffnungen nicht aufgegeben, die junge Frau lebend aus dem Wasser zu bergen. Bei 17 Grad Wassertemperatur gebe es noch Chancen. Stündlich sinke zwar die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges, sagt ein erfahrener Marineoffizier, aber möglich sei es noch. "Einen Todesfall Nummer sechs", sagt er mit leiser Stimme, "wird es im 50. Jubiläumsjahr dieses Schiffes hoffentlich nicht geben."
Die Marine will weitersuchen, sagt der Sprecher. Um 20.30 Uhr wurde die Suche aber vorübergehend abgebrochen. Mit dem ersten Tageslicht soll es weitergehen.
Danach verlief die "Aufklärung" im Sande.
Unfall? Mord? Suizid? Wer weiss.