Fremdenfeindliche Abwehrhaltungen haben auch zu tun mit einer heute schon historischen Bringschuld bundesdeutscher Politik. Sie kommt aus dem Versteckspiel mit der Wirklichkeit im für die Gestaltung der Einwanderungssituation verlorenen Jahrzehnt der 1980er Jahre.
Es ist spät geworden in der Diskussion um Einwanderung und Eingliederung in Deutschland: Anfang der 1980er Jahre wurde bereits gefragt, ob es für die hier anstehenden Aufgaben noch 'fünf vor zwölf' oder schon 'fünf nach zwölf Uhr' sei. Geschehen ist seither wenig. Wieviel Uhr mag es heute sein?
Umfassende gesetzliche und politische Antworten auf die Herausforderung durch die Migration und ihre Folgen fehlen nach wie vor. Mehr als ein Jahrzehnt lang galt als kleinster Nenner aller einschlägigen regierungsamtlichen Statements die parteiübergreifende Lebenslüge: 'Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland'. Sie hat einen der wichtigsten und, bei Vernachlässigung, gefährlichsten gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche tabuisiert und damit blockiert. Ausländerpolitik ist keine Antwort auf Einwanderungsfragen.
Mit der ungeregelten Einwanderung und der demagogischen Auseinandersetzung darüber wuchs die Angst vor den Fremden. Als die Angst von 'unten' auf die Konzeptionslosigkeit von 'oben' traf, schlugen 'unten' Irritationen, Frustrationen und soziale Ängste um: bei den einen in politische Apathie bzw. 'Politikverdrossenheit', bei anderen in gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit bzw. fremdenfeindliche Gewaltakzeptanz. Das waren nicht etwa nur unvermeidliche Folgen von Einwanderung und Eingliederung, sondern auch vermeidbare Folgen ihre mangelnden politischen Gestaltung. Längst überfällig ist für alle Problembereiche und Folgeprobleme des Wanderungsgeschehens eine umfassende auf klare Rechtsgrundlagen gestützte Politik für Migration, Integration und Minderheiten. Sie muß mit nüchternen Bestandsaufnahmen beginnen. Sie muß daraus den politischen Gestaltungssbedarf ableiten und die dazu nötigen Handlungsspielräume schaffen. Sie muß langfristig angelegt sein und alle Politikbereiche gegeneinander abwägen: von der Wirtschaftspolitik über die Sozialpolitik bis zur Kulturpolitik.
Voraussetzung dazu sind Gesamtkonzepte, hervorgegangen aus einer offenen Generaldebatte über die Zukunft von Bevölkerung, Wirtschaft, Politik und Kultur in Deutschland. Eine solche Debatte ist belastet durch politische Versäumnisse, unausgetragene Konflikte, verkrampfte Positionen und das mangelnde, bestenfalls in wechselseitiger Schuldzuschreibung akzeptierte Eingeständnis verlorener Handlungschancen im vergangenen Jahrzehnt und früher. Im gemeinsamen Interesse an der Gestaltung der Zukunft und an der Sicherung von sozialen Frieden und kultureller Toleranz im Innern muß es dennoch gelingen, konsensfähige Perspektiven zu finden. Nötig dazu ist eine De-Eskalation der hoch emotionalisierten Migrationsdiskussion und die Bereitschaft zum pragmatischen Dialog über die gemeinsamen Probleme.
Jede weitere politische Erkenntnisverweigerung oder Tabuisierung, jede defensive Verdrängung oder Vernachlässigung dieses innenpolitisch brisanten Themas, jede weitere Flucht aus der Handlungsverantwortung aus Angst vor dem Bürger als Wähler käme fahrlässiger Selbstgefährdung gleich. Die Migration und ihre Folgen werden Deutschland und Europa auch in Zukunft begleiten: von den Wanderungen im europäischen Binnenmarkt und an seinen Rändern bis zum kontinentalen und interkontinentalen Wanderungsdruck in Ost-West- und Süd-Nord-Richtung.
Deutschland allein kann die Wanderungsproblematik der Welt nicht lösen. Aber es kann und muß, auch im eigenen Interesse, auf nationaler und europäischer Ebene seinen Beitrag dazu leisten. Dabei müssen die Hintergründe des weltweiten Wanderungsgeschehens und die Problemlagen in Europa als Rahmenbezüge im Auge behalten werden.
Quelle und ganzer Artikel:
http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr133.htmWer so hart austeilt wie Sarrazin, sollte deshalb nicht nur einstecken können - er muss auch für seine Positionen geradestehen. Natürlich sichert das Grundgesetz die Meinungsfreiheit zu, in Artikel 1 heißt es aber auch: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Wer die Muslime über einen Kamm schert, ihnen die Intelligenz abspricht und den Islam als quasi-terroristisch diffamiert, darf sich nicht wundern, wenn seine Partei und der Arbeitgeber Konsequenzen ziehen. Denn Sarrazin wird ja erst dadurch interessant, weil er als Sozialdemokrat Thesen aufstellt, die sonst eher aus der rechten Ecke kommen. Und selbstverständlich profitiert er davon, dass er als Bundesbank-Vorstand einen seriösen Posten hatte. Ohne diese Referenzen wäre sein Buch vielleicht ein Ladenhüter worden.Q:
http://www.morgenweb.de/nachrichten/politik/20100903_mmm0000000492200.html