Terrorserie in Russland
30.11.2009 um 00:01
hier ist ein guter Artikel dazu
Neonazis oder Islamisten - wer sprengte den Expresszug?
Gisbert Mrozek, Moskau. Es gab mindestens 26 Tote. 20 Verletzte schweben noch in Lebensgefahr. Wer hat sie auf dem Gewissen? Neonazis? Die Mafia? Islamisten? Tschetschenen? Wie ernst zu nehmen ist ein Bekennerschreiben?
Gleich schon am Freitagabend erklärte ein russischer Rechtsradikaler in seinem Internetblog, die Kampforganisation Combat 18 habe den Anschlag verübt. Die Theorie wurde später auch im deutschen Fernsehen aufgegriffen. Was ist daran?
Daraus, dass die rechtsradikale "Bewegung gegen illegale Immigration" (DPNI), zu der der Bekenner zählen soll, sich sofort von ihm distanzierte, folgt natürlich nicht zwangsläufig, dass Neonazis doch nicht die Täter waren.
Wer den "Bonzenexpress" angreift ...
Wer den "Bonzenexpress" Moskau-St.Petersburg angreift, der u.a. einen Teil von Putins und Medwedews Hausmacht zur Arbeit und zurück ins Wochenende transportiert, der muss organisiert und gewaltbereit sein und den russischen Staat und seine Vertreter zutiefst hassen.
Diese Voraussetzungen erfüllen auf den ersten Blick Neonazis, aber auch manche Antifaschisten, manche Anarchisten, die Mafia, viele Tschetschenen und der islamistisch-fundamentalistische Untergrund. Die Auswahl ist also etwas grösser, als man auf den ersten Blick denken könnte.
Anarchisten und Antifas sind zu unorganisiert
Russisches Anarchisten und Antifas (die auch nach dem ersten Anschlag auf den Newski-Express von den Ermittlern verdächtigt wurden), kommen allerdings wohl doch nicht in Frage, schon weil sie zu unorganisiert sind.
Die russische Neonazi-Szene ist viel besser organisiert. Sie ist gewalt- und Pogrombereit. Sie beweist das mit mörderischen Attacken auf Schwarze, Kaukasier und Asiaten oft genug. Sie können auch Bomben auf dem Chinesenmarkt in Moskau legen und haben es auch schon getan. Sie hassen das Demokraten-Regime und den Staat und erklären ihm oft genug den Krieg bis aufs Blut.
Rechtsradikale meiden die Konfrontation mit den "Organen"
Aber in der Praxis vermeiden russische Rechtsradikale eher die direkte Konfrontation mit dem Staat, wohl wissend, dass sie sie eh nicht gewinnen könnten, schon alleine deswegen, weil zahllose Aktivisten informelle Mitarbeiter der "Organe" sind.
Sie rechnen eher auf klammheimliche Sympathien und Allianzen mit den "Organen", als diese mit einem Terrorangriff auf den "Bonzenexpress" bis aufs Äusserste zu reizen.
Es gibt keine russische rechtsradikale "RAF" oder "Bader-Meinhof-Gruppe"
Eine rechtsradikale russische "RAF" gibt es bisher nicht. Von russischen Rechtsradikalen verübte Terroranschläge wie den auf den Newski-Express hat es bisher auch nicht gegeben. Hätten sie es diesmal getan, wäre es eine neue Qualität.
Die russische Mafia ist natürlich auch gewaltbereit und hasst den Staat der Straflager, seine Gefängniswärter, Bonzen und Bullen (soweit sie nicht selbst ein Sprössling des Systems ist). Aber abgesehen davon, dass die Mafia keine Bekennerschreiben schreibt, sondern eher pragmatisch mordet, ist die russische Unterwelt mit Bandenkriegen und Auftragsmorden untereinander beschäftigt - und koexistiert lieber mit den "Organen" wo sie nur kann.
Die Mafia möchte lieber ganz pragmatische Koexistenz und gute Geschäfte
Seit langem ist die Mafia mit dem Innenministerium und der Justiz verfilzt und verflochten. Koexistenz der Strukturen ist ihre Geschäftsgrundlage. Eine Kriegserklärung der Paten gegen das System überhaupt wäre eine Dummheit.
Welchen Gewinn hätte man denn auch von einem Anschlag auf den Newski-Express, in dem vielleicht auch noch die eigenen Leute sitzen und gerade mit einem Spitzenbeamten komplizierte Gespräche führen?
Allerdings: als 2007 im Gebiet Nowgorod der erste Anschlag auf Newski-Express verübt wurde (nur wenige Minuten Fahrt von der jetzigen Unglücksstelle), da tauchte schon einmal die Mafiatheorie auf.
Sie stammte von einem im Zusammenhang mit dem Anschlag verhörten Inguschen, der die Gesellschaft "Wainach" im Gebiet Nowgorod (zu dem auch die Eisenbahn-Streckenabschnitte durch den Waldai gehören) organisiert. "Wainach" ist der Sammelbegriff für die eng verwandten Völker der Inguscheten und Tschetschenen.
Erstaunlicherweise hat sich in den letzten Jahren auch in manchen der einsamsten Ecken und verwaldeten Winkeln des Waldai eine Diaspora von Tschetschenen und Inguscheten angesiedelt.
Zwei der mutmasslichen Täter von 2007, zwei Inguscheten (respektive in Inguschetien lebende Tschetschenen) stehen jetzt seit dem Juni 2009 in Nowgorod vor Gericht.
Am 25.11., zwei Tage vor dem neuen Anschlag erklärte der Angeklagte Makscharip Chidrijew, er habe zusammen mit seinem Bruder den Sprengstoff im PKW herangeschafft. Ein weiterer Angeklagter beteuert seine Unschuld.
Wahrscheinlichste Theorie: kaukasische Islamisten
Auch wenn man keinesfalls Tschetschenen zum Generalsündenbock machen will, ist es tatsächlich die wahrscheinlichste Tatversion, dass Tschetschenen oder islamistische Fundamentalisten aus dem Kaukasus den Newski-Express auf dem Gewissen haben.
Sie sind gewaltbereit und rücksichtslos, sie hassen den russischen Staat, alle seine Vertreter im Besonderen und die Russen im Allgemeinen. Mit dem Nord-Ost-Geiseldrama haben sie seinerzeit hinreichend bewiesen, dass sie versuchen könnten, "den Krieg ins Hinterland" zu tragen.
Im Sommer versicherten tschetschenische Untergrundgruppen, sie hätten begonnen, einen "Sabotage- und Diversionskrieg" gegen Russland zu führen. Selbst die Katastrophe im Sajano-Schuschenski Wasserkraftwerk im fernen Sibirien verbuchten sie per Internetbekennerschreiben schnell auf das eigene Ruhmeskonto. Das vermittelte so ein schönes Gefühl von Allmacht und Allgegenwärtigkeit.
Warum gibt es bisher noch kein Bekennerschreiben eines Warlords?
Erstaunlich ist, dass sie sich bis jetzt noch nicht zu dem jetzigen Anschlag auf den Newski-Express bekannt haben, der doch fast das vollkommendste Symbol des Regimes ist, dass sie bekriegen.
Vielleicht liegt es ja daran, dass sie diesmal ihren Landsleuten in der Umgebung des Unglücksortes (und vor Gericht) das Leben nicht noch schwerer machen wollen.
Die lange Kette blutiger Eisenbahn-Anschläge der letzten Jahre
Blutige Anschläge auf Bahnhöfe und Personenzüge, die so gut wie sicher vom tschetschenischen Untergrund verübt wurden, begannen 1997 mit Bombenanschlägen des Warlords Salman Radujew auf den Bahnhöfen von Pjatigorsk und Armawir (Armavir) im Nordkaukasus.
2001 wurde der Personenzug Rostow-Baku zum Entgleisen gebracht. Am 3.September 2003 forderte ein Bombenanschlag auf einen Nahverkehrszug bei Mineralnye Wody sechs Tote und 90 Verletzte. Am 5.Dezember 2003 tötete eine 30-Kilo-Bombe im Zug von Mineralnye Wody 47 Menschen und verletzte 180.
In den Jahren 2004 und 2005 gab es noch drei weitere Bombenanschläge auf Personenzüge in Nordossetien, Tschetschenien und Dagestan.
Russland ist nicht das Land der einfachen Erklärungen
Daraus folgt natürlich ebenfalls nicht zwangsläufig, dass aus dem tschetschenischen Untergrund auch der Newski-Express angegriffen wurde.
Denn in Russland gibt es selten es selten einfache Erklärungen. Aber diese ist doch - so vorurteilsfrei wie möglich betrachtet - wesentlich wahrscheinlicher, als andere Theorien. Ob es mehr sie mehr ist als Theorie, könnten vielleicht die Ermittlungen ergeben.
Quelle Aktuell.ru