Umsiedlung am Tigris
Neues vom Ilisu-Staudamm
Nach dem Rückzug von europäischen Regierungen und Unternehmen will die Türkei das umstrittene Großprojekt alleine umsetzen - und hohe Standards beim Schutz von Mensch und Umwelt einhalten. Am Sonntag wird die erste neue Siedlung für Menschen aus dem Flutungsgebiet eröffnet.
Türkische Beteiligung erhöht
Vor eineinhalb Jahren haben die Regierungen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz ihre Kreditbürgschaften für den Ilisu-Staudamm in Südostanatolien zurückzogen. Die Türkei nehme beim Bau des Damms nicht genug Rücksicht auf Menschen, Kultur und Natur, begründeten sie ihren Rückzug.
Inzwischen wird längst wieder gebaut im Ilisu-Tal am Tigris. Für die europäischen Kreditgarantien sind türkische Privatbanken eingesprungen, der österreichische Anlagenbauer Andritz Hydro blieb auch unter den neuen Vorzeichen bei der Sache, die Aufträge der deutschen und Schweizer Firmen übernahmen türkische Unternehmen.
Die Türkei will den Staudamm nun alleine bauen - und sie will zeigen, dass sie dabei auch ohne europäische Aufsicht höchste Standards beim Schutz von Mensch und Umwelt einhalten kann, etwa bei der Umsiedlung der Menschen im Flutungsgebiet. An diesem Sonntag will Ministerpräsident Erdogan persönlich die Schlüssel zu der ersten neuen Siedlung übergeben.
"Das schönste Dorf der Welt"
Die Bewohner des kurdischen Dörfchens Ilisu wurden bereits in den vergangenen Wochen durch ihr neues Dorf geführt, das die staatliche Wohnungsbaugesellschaft für sie errichtet hat. Hoch am Berghang liegt die neue Siedlung über dem Tigris, der das alte Dorf verschlucken wird, wenn der Staudamm fertig ist.
Etwas klinisch mag Neu-Ilisu im Vergleich zum alten Dorf wirken, das aus krummen Gassen und windschiefen Lehmhütten besteht, in denen Mensch und Vieh unter einem Dach hausen. Der türkische Umweltminister Veysel Eroglu übertreibt aber nicht, wenn er die Vorzüge der neuen Siedlung aufzählt
"Ich will von hier aus der ganzen Welt sagen: Seht, welch ein schönes Dorf wir gebaut haben!", schwärmt Eroglu. "Die Häuser sind regelrechte Villen auf 1.000-Quadratmeter-Grundstücken, mit Kanalisation und fließendem Wasser, mit Gemeindehaus, Moschee, Grünflächen und sogar einem Spielplatz. Es ist das schönste Dorf der Türkei, wenn nicht der ganzen Welt. Wir sind stolz, das geschafft zu haben.“
Prototyp für ein ganzes Tal
Die Behörden haben sich viel Mühe mit dem Dorf gegeben, das ist den schmucken Bungalows anzusehen. Neu-Ilisu ist schließlich der Prototyp für viele weitere Dörfer, die noch folgen sollen. Denn Ilisu ist nur eine von fast 200 Ortschaften, die im Stausee versinken werden, wenn der Damm fertig ist. Die 300 Einwohner von Ilisu sind nur die ersten von rund 50.000 Menschen, die in den nächsten Jahren umgesiedelt werden sollen. Sie alle werden gespannt auf dieses Musterdorf blicken, wenn Ministerpräsident Erdogan es am Sonntag offiziell übergibt.
Die meisten Einwohner von Ilisu hat der Staat mit dem neuen Dorf jedenfalls überzeugen können. Nach jahrelangem Widerstand hätten sie nun nichts mehr einzuwenden gegen den Umzug, sagt Bürgermeister Mehmet Nezi Celik bei der Vorbesichtigung: "Wir sind sehr zufrieden mit den Häusern. Anfangs waren wir ja gegen dieses Projekt, aber diese Häuser haben unsere Bedenken zerstreut. Alle Leute im Dorf finden die Häuser gut.
Vor allem die Hausfrauen von Ilisu sind beeindruckt von den neuen Häusern, in denen sie erstmals fließendes Wasser haben werden, moderne Einbauküchen und gekachelte Badezimmer statt dem Plumpsklo auf dem Hof. Doch damit stelle sich auch schon das nächste Problem, sagt die Bäuerin Sirin Seyhan: "Die Häuser sind wunderschön, wir bedanken uns sehr dafür, aber wir können unmöglich unsere alten Sachen hinein stellen. Wir möchten vom Ministerpräsidenten, dass er uns neue Einrichtungen gibt, vor allem die Haushaltsgeräte.
Kritik an Kosten
Daraus wird wohl nichts werden, denn geschenkt bekommen die Dörfler von Ilisu nichts - auch nicht die neuen Häuser, in die sie ab Sonntag umziehen sollen. Mahmut Dündar, zuständiger Abteilungsleiter bei der federführenden Behörde, erläutert die Zahlungsmodalitäten für Neu-Ilisu:
"Die Einwohner bekommen diese Häuser zu wirklich günstigen Konditionen. Die ersten fünf Jahre lang müssen sie überhaupt nichts bezahlen für diese schönen, modernen Häuser, danach zahlen sie die 70.000 Lira über 20 Jahre in monatlichen Raten von je 291 Lira ab."
70.000 Lira, das sind rund 35.000 Euro - eine märchenhafte Summe in diesem entlegenen Tal am Tigris. Die Monatsraten entsprechen der Hälfte des türkischen Mindestlohns, den hier in Südostanatolien ohnehin kaum jemand verdient.
Der Bauer Mehmet Emin Celik findet es ungerecht, dass er sich und seine Familie auf Jahrzehnte hinaus für ein Haus verschulden soll, das er nie gewollt hat: "Wenn wir die neuen Häuser umsonst bekommen, dann nehmen wir sie gerne. Aber für unsere alten Häuser haben wir bei der Enteignung nur ein Spottgeld bekommen, und nun sollen wir für die neuen Häuser 70.000 Lira bezahlen. Ich finde, wir sollten sie umsonst bekommen."
Womit bezahlen?
Vor allem fragen sich die Einwohner von Ilisu, wovon sie ihre Raten überhaupt bezahlen sollen - sind sie doch bitterarme Bauern, die von ihren Äckern leben und von ihrem Vieh. Denn bei allem Luxus fehle im neuen Dorf noch etwas Wesentliches, sagt Bürgermeister Celik:
"Mit den Häusern sind wir schon zufrieden. Aber wir brauchen noch Ställe, denn in diese schönen Häuser können wir unser Vieh ja nicht mitbringen. Und wir brauchen neue Felder und Weiden, denn unsere alten Anbauflächen werden ja geflutet."
Wovon die Bauern von Ilisu in ihrer neuen Siedlung hoch über dem Tigris leben werden, das ist deshalb noch unklar. Umweltminister Eroglu hat zwar angekündigt, dass ihnen staatliches Forstland zur Verfügung gestellt werden soll, um Mandeln und Walnüsse anzubauen.
Die Dörfler wissen davon aber noch nichts - ebenso wenig wie von den Umschulungen und Ausbildungen, die ihnen seit Jahren in Aussicht gestellt werden. So wie der Bauer Mehmet Emin Celik fragen sich deshalb viele Einwohner von Ilisu: "Wenn wir nun umgezogen sind und wenn der Staudamm fertig ist - wovon sollen wir uns dann ernähren?"
http://oe1.orf.at/artikel/260591