BuddhasStiefel schrieb am 21.07.2019:Sich nach Wachstum zu orientieren, gehört aber zum Menschen dazu.
Den modernen Menschen, mit unserer Anatomie und unserer Hirnleistung, gibt es seit mindestens 70.000 Jahren.
Wachstum, das so enorm ist, dass es innerhalb eines einzigen Menschenlebens abzusehen ist, gibt es seit ca. 200 Jahren. Und auch nur in einem kleinen Teil der Welt.
Nur, weil 1-3 Generationen jetzt unter solchen Umständen aufgewachsen sind heißt das noch lange nicht, dass das "zum Menschen dazu" gehört. Im Gegenteil: Das ist die absolute Ausnahme.
frivol schrieb:Gibt es jemanden der Kritik am Kapitalismus erklären kann, so wie Marx oder Soziologen wie Erich Fromm da Probleme sehen und Lösungen? Aber nicht nur irgendwas von entfremdetem Menschen zitieren, sondern so beschreiben, das man es verstehen kann?
Ich fand Max Webers Kapitalismuskritik immer ein bisschen ansprechender als Marx'.
In "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" geht er so an die Sache ran, dass er sich ansieht welche Denkweisen zum kapitalistischen System geführt haben und wie die einzuordnen sind.
Wichtiger Kontext hierzu ist, dass Weber die Zeit vor der Aufklärung als Statismus angesehen hat. Es gab ein Weltbild, dass menschliches Denken informiert hat und den Status Quo bestimmt hat. Im westlichen Fall war das die Religion, die eine absolute Wahrheit propagierte und entsprechend gab es Herrscher "von Gottes Gnaden", die diese absolute Wahrheit auf Erden vertraten und nicht zu hinterfragen waren = statisch.
Die Aufklärung hat dieses Machtgefüge beendet, da sie dazu geführt hat, dass man hinterfragt. Glaube wurde abgelöst durch Rationalisierung. Wandel und Fortschritt wurde möglich, da man sich nun bewusst war, dass absolute Wahrheit nicht existiert = dynamisch.
Webers Kritik am frühen Kapitalismus war nun, dass er die Logik dieses Systems nur als eine neue Abstraktion ansah. Ein Logik von Wachstum, Effizienzsteigerung, Gewinnmaximierung usw. die zwar stets einer rationalistischen Logik folgt und sich einer validen Methodik bedient(Mathematik in der Regel), aber dabei aus dem Auge verliert wo man eigentlich hin will und wie man leben will. Es mutiert quasi zu einer endlosen rationalistischen Optimierung zum Selbstzweck = dynamisch im Sinne von wirtschaftlichem Fortschritt, aber mit statischer Grundlage(Logik von Wachstum die als absolute Wahrheit angesehen wird).
Diese Logik wir laut Weber von Menschen genauso wie von Institutionen internalisiert.
Er spricht hier von einem "stahlharten Gehäuse der Hörigkeit" in dem sich Menschen befinden, ohne es zu wissen, da ihr "Gefängnis" die Art zu denken ist, die sie sich angeeignet haben.
„
Niemand weiß noch, ob am Ende dieser Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘“
Etwas prophetisch sagte er deshalb schon 1904, dass dieses System unsere soziale und wirtschaftliche Ordnung "
mit überwältigendem Zwange bestimmt - und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“.
Anders als Marx reduziert er den Lauf der Dinge nicht auf einen Klassenkampf in dem eine Seite ihre Interessen durchsetzt, er redet auch nicht von "Entfremdung", was irgendwie voraussetzen würde, dass man wüsste wie es "richtig" gehört.
Stattdessen bezieht er sich schlicht auf die Denkmuster, die diesem damals neuen Phänomen zugrunde lagen und erörtert welche Pathologien in diesem Denkmuster zu finden sind und wie sie sich auswirken.
Wie gesagt, das war vor über 100 Jahren. Heute sieht die Sache etwas anders aus.
Von Kapitalismus zu reden ist meiner Meinung nach nicht mehr richtig. Unser heutiges System ist der Neoliberalismus, der sich seit Thatcher und Reagan im gesamten Westen und weit darüber hinaus verbreitet hat.
Der stellt eine Art Entfesselung kapitalistischer Logik dar. Massive Reduzierung jeglicher Regulationen der Märkte, globale (Bewegungs-)Freiheiten für Waren und Kapital, Gesellschaften beugen sich einem Wachstumszwang und entsprechend passt sich Policy(also politische Programme) an: Richtig ist was Wachstum schafft. Bedenken hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Verträglichkeit, Nachhaltigkeit usw. stehen dem Wachstumsgedanken definitiv hinten an.
Der Klimawandel ist ein hervorragendes Problem um die Pathologie dieser Denkweise aufzuzeigen.
Wir wissen seit Jahrzehnten, dass unser Wirtschaften nicht nachhaltig ist, das es unvorstellbar riesige globale Probleme verursacht. Trotzdem können wir, wie ein Junkie, unser Verhalten nicht ändern. Die Logik, die unser Verhalten bestimmt hat sich niedergeschlagen in allen Ebenen der Gesellschaft. Machstrukturen reflektieren kurzfristige und private Wirtschaftsinteressen, die Politik orientiert sich an diesen, aber auch ihre Indikatoren nach denen sie Politik machen sind nach neoliberaler Wirtschaftslogik ausgelegt. Auch auf persönlicher Ebene ist der neoliberale Status Quo vorgedrungen, bis hin zu der Art wie wir unsere Persönlichkeiten definieren. Konsum ist Kultur geworden.
Das Resultat ist, dass Bemühungen dem Klimawandel entgegen zu treten von zwei Seiten tropediert werden:
1. Wirtschaftliche Interessen mit enormem Einfluss auf Politik und Kapitalfluss
2. Ein konservativ-reaktionärer Backlash, der in nötigen Veränderung eine Gefahr fürs eigene Selbstverständnis sieht, da sich das Individuum als Teil des Status-Quo definiert. ("Die wollen mir was wegnehmen." "Auto/Fleisch ist deutsche Kultur." usw.)
Die zweite Gruppe wird von der ersten Gruppe politisch instrumentalisiert.
Zu dem ganzen Thema empfehle ich immer gern das Buch "The Great Mindshift", von Maja Göpel, der Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats des Bundestags.
Das gibt kostenlos zum Download:
http://greatmindshift.org/Sie redet auch von "iron cage economics", Webers "stahlharte Gehäuse der Hörigkeit" wurde im englischen zu "iron cage" übersetzt.
http://greatmindshift.org/key-concepts/iron-cage-economics/