Kopftuchverbot in Hessen ist rechtens!
22.03.2009 um 12:50
FAZ: Schluss mit dem Säkularismus
Sollten wir uns nicht ein Beispiel am Islam nehmen? Die Trennung von Glaube und Politik ist nicht mehr zeitgemäß
Von Stefan Weidner
Einer verbreiteten Sicht zufolge hat der Islam etwas politisch Unhygienisches. Nicht dass von ihm eine große Ansteckungsgefahr ausginge. Aber es erscheint ein wenig schmuddelig, dass im Islam Politik und Religion nicht deutlich getrennt sind, dass die Scharia zugleich weltliches wie religiöses Gesetz ist und dass, wer gläubiger Muslim ist, zumindest theoretisch mit unserem säkularen Rechtsstaat seine Schwierigkeiten haben müsste. Zwar bezweifelt die Islamwissenschaft mittlerweile, dass die Muslime wirklich nicht zwischen religiöser und weltlicher Macht zu trennen wüssten. Doch lassen wir die Behauptung einmal so stehen. Im Islam eine Trennung von Staat und Religion zu suchen liefe am Ende doch nur darauf hinaus, die von uns bevorzugten politischen Konzepte im Anderen wiederzufinden. Selbst wenn dies gelänge: Das Unähnliche ist inspirierender!
Für das Protokoll aber halten wir fest: Der Islam kennt zumindest eine strikte Trennung zwischen privat und öffentlich - der Schleier der Frau und die nach außen schmucklosen, ihre ganze Pracht erst nach innen entfaltenden Häuser der traditionellen islamischen Architektur zeugen bis heute von einer Abtrennung, ja Heiligung des Privaten, die viel größer ist als bei uns.
Nehmen wir also die mangelhafte Trennung von Religion und Politik im Islam als gegeben an und begreifen sie als Anregung, über unser eigenes Verständnis von Politik und Glauben nachzudenken: Ist die behauptete Trennung von Politik und Religion, von Staat und privaten Glaubensangelegenheiten bei uns überhaupt ehrlich? Oder zugespitzt: Ist diese Trennung klug, stark, zukunftsfähig und resistent genug, sich auf dem weltweiten Markt der Systeme, im Konkurrenzkampf um die attraktivste Vision des Lebens und Zusammenlebens zu behaupten?
Eine ihrer frühesten Ausformulierungen erhielt diese bei uns gängige Sicht von Friedrich Schleiermacher, der der Religion angesichts des Ansturms der aufklärerischen Kritik einen eigenen, unangreifbaren Raum bewahren wollte: "Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl", heißt es in Schleiermachers "Reden über die Religion". Diese Idee war so erfolgreich, dass sie zur gängigen Sicht auf die Religion geworden ist. Dies erklärt auch, warum der orthodoxe Islam im Westen weithin mit Befremden betrachtet wird, während der - vordergründig - die Innerlichkeit predigende Sufismus, die islamische Mystik, zu einer beachtlichen Popularität gelangt ist, ebenso wie diejenigen Religionen, von denen man - naiverweise - glaubt, dass sie in den Rest des Lebens nicht wirklich eingreifen, wie Buddhismus und Hinduismus.
Wenn man das Religiöse auf Anschauung und Gefühl reduziert, verbirgt sich dahinter die Hoffnung, die Reibungsflächen, die die verschiedenen religiösen Traditionen zwangsläufig mitbringen, einzuklammern oder unter Quarantäne zu stellen, statt dass sie sich aneinander messen und abschleifen - einerseits die Reibungsflächen zwischen den verschiedenen Religionen, andererseits die zwischen unserer Anschauung, unserem Gefühl und unserer sozialen und politischen Existenz. Es ist eine friedensstiftende oder friedenserhaltende Taktik, deren Ursprünge anderthalb Jahrhunderte vor Schleiermachers Reden "Über die Religion" liegen, beim Westfälischen Frieden.
Wenn man das Religiöse auf Anschauung und Gefühl reduziert, verbirgt sich dahinter die Hoffnung, die Reibungsflächen, die die verschiedenen religiösen Traditionen zwangsläufig mitbringen, einzuklammern oder unter Quarantäne zu stellen, statt dass sie sich aneinander messen und abschleifen - einerseits die Reibungsflächen Pressespiegel 16.03.2009 81
zwischen den verschiedenen Religionen, andererseits die zwischen unserer Anschauung, unserem Gefühl und unserer sozialen und politischen Existenz. Es ist eine friedensstiftende oder friedenserhaltende Taktik, deren Ursprünge anderthalb Jahrhunderte vor Schleiermachers Reden "Über die Religion" liegen, beim Westfälischen Frieden.
Vermutlich verhält es sich sogar derart, dass viele von uns, besonders diejenigen, die sich nicht klar zu einer Religion bekennen, ihre Glaubens- und Vorstellungswelten gar nicht bewusst erfassen, dass sie sich keine Rechenschaft darüber ablegen, weil niemand es von ihnen verlangt, ja weil es geradezu verpönt ist. Wir überprüfen unsere intimeren Überzeugungen zu selten an der Wirklichkeit, im öffentlichen Raum oder allenfalls verschämt, vielfach gebrochen und sozusagen rationalisiert, an den politischen Diskurs angepasst.
Statt Anschauung und Gefühl, wie Schleiermacher wollte, eigens hervorzuheben, lassen wir beides schleifen. Ein sehr apathisches, passives Seelenleben dürfte die Folge sein, und die Kompensationstechniken dafür sind unübersehbar: die Ausbreitung trivialer Attitüden zur besten Sendezeit, die Verarztung unserer Kränkungen in der Psychotherapie, versteckte Ressentiments, die sich in leichthin übergestreiften Meinungen Ausdruck verschaffen. Das alles aber ohne Kontinuität, Kohärenz und eine die verschiedenen Bereiche unseres Lebens umfassende Vision.
Was aber sind unsere Glaubensvorstellungen, inneren Überzeugungen und (post- oder pseudo-) religiösen Gefühle? Im selben Moment, da man die Frage formuliert, wird deutlich: Wir wissen es gar nicht mehr. Während wir in Talkshows oder vor dem Psychiater die Details unseres Intimlebens ausplaudern, haben wir es verlernt, uns über unsere Weltbilder und Glaubensvorstellungen - gleich ob im traditionellen Sinn religiös oder nicht - Rechenschaft abzulegen und sie zur Diskussion zu stellen. Was diese Glaubensvorstellungen sind, erfahren wir überhaupt nur ex negativo, wenn andere aus dem Rahmen dieser Vorstellungen fallen - etwa Muslime oder auch nur eine Tagesschau-Sprecherin, die ein dem Mainstream nicht mehr gefallendes Frauenbild propagiert.
Ohne dass wir es eingestehen - denn wir behaupten, die Sphären mustergültig getrennt zu haben -, umgeben wir unsere meist nicht mehr explizit religiösen Glaubensvorstellungen mit einem Schweigeverbot. Oder wir halten sie für so selbstverständlich, dass wir meinen, sie nicht mehr diskutieren zu müssen. Vielleicht finden wir deshalb die Vermischung der ursprünglich gewiss zusammengehörigen Sphären so unhygienisch: Wir haben die Thematisierung grundsätzlicher Glaubensvorstellungen mit einem intimen Tabu umgeben. Das hat einiges für sich. Nicht nur verschleiern wir sie, behalten sie eifersüchtig für uns, wir müssen sie auch gar nicht erst präzisieren. Der Bereich unserer Glaubensvorstellungen ist dadurch zwar geschützt, aber zugleich so abgeschottet, dass er zu verkümmern droht.
Vielleicht verfügen wir schon über gar keine solchen Glaubensvorstellungen mehr. Das wäre immerhin eine sehr bequeme Haltung. Wenn wir keine Prinzipien haben, kann uns auch nichts erschüttern. Wir geben Lippenbekenntnisse zu Grundgesetz, Demokratie und Rechtsstaat ab, aber was dies genau heißt, kümmert allenfalls den Spezialisten. Es gibt kein Thema mehr, das eine Gegenöffentlichkeit jenseits unserer politischen Institutionen mobilisieren könnte. Diese Reibungslosigkeit zwischen politischem System und alternativer politischer Vision auch bei großen Fragen hat etwas Erschreckendes. Sie deutet darauf hin, dass keine der Durchsetzung harrende Alternative mehr gedacht wird.
Was wir den Muslimen vorwerfen, wenn wir von ihnen die Trennung eigentlich untrennbarer Sphären verlangen, ist dies: dass sie, anders als wir, höhere Prinzipien kennen und wirksam werden lassen wollen. Dass sie eine Vision jenseits des individuellen Heils haben. Dies muss uns, die wir eine solche Vision nicht haben, als Bedrohung erscheinen, zumal wir, anders als die Muslime, offenbar ein großes Interesse daran haben, den Status quo beizubehalten. Die Trennung der Sphären zu verlangen heißt: Seid zufrieden mit dem, was wir euch geben. Aber wie zufrieden sollen und wollen wir selbst damit sein?
Es gibt im 21. Jahrhundert keine selbstverständlichen Glaubensvorstellungen mehr. Keine Religion ist unhinterfragt, aber auch keine Aufklärung, kein gesunder Menschenverstand, ja nicht einmal die bei uns so verbreitete Heilssuche in einer zum Glücken verurteilten Biographie. Das Fehlen von Visionen im öffentlichen Diskursraum lässt sich tatsächlich nur mit der Vermutung erklären, dass die meisten von uns immer noch leidlich zufrieden sind. Auch die Entscheidungen unserer Politik zielen offenbar vor allem darauf ab, den gegenwärtigen Zustand beizubehalten. Zufriedenheit ist ein hohes Gut, aber ein Blick über den Tellerrand lehrt, dass sie trügerisch ist. Übrigens: Wenige gesellschaftliche Visionen scheinen unattraktiver als die des politischen Islams heute; aber darin, dass sie eine Vision haben, sind seine Anhänger weltzeitgemäßer als die meisten von uns.
Der Autor ist Publizist und Übersetzer aus dem Arabischen.
Den Muslimen werfen wir vor, eine Vision jenseits des eigenen Heils zu haben. Wir haben es verlernt, über unsere Weltbilder und unsere Religion zu diskutieren.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.03.2009, Nr. 11 / Seite 15
http://www.faz.net/p/Rub8CC8378562D24B42B5AD630C38F48874/Dx2~E739a61e286bc12161150f112630a77fb~ATpl~Ecommon~Scontent.html