Wahlen in der Türkei
21.07.2007 um 15:07
"Vernichtende Niederlage der etablierten Parteien in der Türkei
Von Justus Leicht undPeter Schwarz
7. November 2002 (<--nicht erschrecken schon älter)
Dietürkischen Wähler haben am vergangenen Sonntag sämtlichen Parteien, die in denvergangenen zwanzig Jahre das politische Leben des Landes dominiert haben, einevernichtende Abfuhr erteilt. Weder die drei Parteien der bisherigen Regierungskoalitionnoch die Partei des richtigen Weges (DYP) der früheren Regierungschefin Tansu Ciller sindim neugewählten Parlament vertreten. Sie scheiterten alle an der Zehn-Prozent-Hürde, diedas türkische Wahlgesetz für den Einzug in die Legislative vorschreibt.
Amverheerendsten war die Niederlage der Demokratischen Linkspartei (DSP) des bisherigenPremierministers Bülent Ecevit. Sie erhielt gerade noch 1 Prozent der Stimmen, nach 22Prozent bei der letzten Wahl vor drei Jahren. Auch die beiden anderen Regierungsparteienerlitten massive Verluste. Die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP)von Devlet Bahceli fiel von 18 auf 8 Prozent und die Mutterlandspartei (ANAP) von MesutYilmaz von 13 auf 5 Prozent.
Das Wahlergebnis ist Ausdruck der Wut und Empörung,die sich in breiten Bevölkerungsschichten gegen die korrupte politische Elite angestauthat. Das Land durchlebt seit 18 Monaten eine tiefe Wirtschaftskrise. Zwei Millionenverloren ihren Arbeitsplatz und die Landeswährung Lira büßte im Verhältnis zum Dollar dieHälfte ihres Werts ein. Vor allem die unteren und mittleren Einkommensgruppen leidenunter der Arbeitslosigkeit und Inflation.
Die soziale Empörung schlug sichzugunsten der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) nieder, dieals Sieger aus der Wahl hervorging und im neuen 550-köpfigen Parlament fast zwei Drittelder Abgeordneten stellen wird. Ihr Stimmenanteil liegt mit knapp 35 Prozent allerdingswesentlich niedriger. Sie verdankt ihre absolute Mehrheit der Tatsache, dass fast dieHälfte der Wähler aufgrund der Zehn-Prozent-Hürde nicht im Parlament repräsentiertsind.
Neben der AKP gelang nur noch der Republikanischen Volkspartei (CHP) vonDeniz Baykal der Einzug ins Parlament. Sie erhielt knapp 20 Prozent der Stimmen. Sie warim letzten Parlament nicht vertreten und steht wie Ecevits DSP in der Tradition desKemalismus. Ihr Aushängeschild ist der bisherige Wirtschaftsminister und frühereWeltbankvizechef Kemal Dervis, der sich kurz vor der Wahl der CHP angeschlossenhatte.
Dervis hatte den 16-Milliarden-Dollar-Kredit organisiert, mit dem der IWFim vergangenen Jahr den völligen Kollaps der türkischen Wirtschaft verhinderte. SeineTrumpfkarten sind seine guten Verbindungen zu USA, IWF und Weltbank. Unterstützt wurdedie CHP von bessergestellten städtischen Schichten und vom Militär. Kurzzeitig ging sogardas Gerücht um, der ehemalige Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu wolle ihr beitreten.Das wurde zwar dementiert, behielt jedoch seine Signalwirkung.
AKP undErdogan
Die Hochburgen der siegreichen AKP liegen in den Armenvierteln derGroßstädte und den ländlichen Gebieten Anatoliens. Die Istanbuler Zeitung Sabahbezeichnete ihren Wahlerfolg als "Revolution des verarmten Anatolien gegen die altepolitische Garde". Im Mittelpunkt der AKP-Wahlkampagne stand die Anprangerung derverbreiteten Korruption und der sozialen Not.
Ihr Führer, der 48-jährige RecepTayip Erdogan, ist selbst in einem Istanbuler Armenviertel aufgewachsen und wurde in denneunziger Jahren als Oberbürgermeister der Bosporus-Metropole populär. In seiner Jugendmilitanter Islamist, hat sich Erdogan in jüngster Zeit um ein zurückhaltenderes Auftretenbemüht und betont, dass seine Partei weder die säkulare Grundlage der türkischenVerfassung noch die Partnerschaft mit den USA und den Beitrittswunsch zur EU in Fragestelle.
Die AKP wurde erst vor wenigen Monaten gegründet. Erdogan brach nach demVerbot der islamistischen Tugendpartei mit dem langjährigen Islamistenführer NecmettinErbakan und gründete eine eigene, gemäßigtere Partei. Die Justiz hat allerdingsrechtzeitig dafür gesorgt, dass er nicht Regierungschef werden kann. Aufgrund einer vierJahre zurückliegenden Vorstrafe wegen Volksverhetzung - er hatte ein Gedicht mit denZeilen "die Minarette sind unsere Bajonette" rezitiert - wurde ihm die Kandidatur zumParlament verwehrt. Kurz vor der Wahl nahm das Verfassungsgericht zudem Verhandlungenüber einen Verbotsantrag gegen die AKP auf, der seither wie ein Damoklesschwert über derPartei hängt.
Ihren rasanten Aufstieg verdankt die AKP in erster Linie dempolitischen Bankrott der traditionellen türkischen Linken. Die oft als sozialdemokratischbezeichnete DSP hat durch ihr Regierungsbündnis mit der Wirtschaftspartei ANAP und derfaschistischen MHP den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Der 77-jährige Ecevithatte der krisengeplagten Bevölkerung nichts weiter zu bieten als eine Mixtur ausIWF-diktierten Austeritätsmaßnahmen und rabiatem Chauvinismus - letzteres vor allem inder Zypernfrage.
Das ermöglichte es den Islamisten, sich als Anwalt der Armen undUnterdrückten auszugeben. Sie traten im Wahlkampf dafür ein, die Vereinbarungen mit demIWF neu zu verhandeln, um den nötigen Spielraum für großzügigere Subventionen an dieBauern und eine bessere Behandlung von Belegschaften und regionalen Anbietern beiPrivatisierungen zu bekommen. Auch die Sozialeinrichtungen, die von den Islamisten inArmutsvierteln betrieben werden, stärkten ihren Ruf als Beistand derArmen.
Irakkrieg
Die AKP profitierte außerdem von der weitverbreitetenStimmung gegen einen Irakkrieg. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt einenKrieg der USA gegen das Nachbarland ab. Erdogan hatte im Wahlkampf mit den Worten: "Wirwollen kein Blutvergießen, Tränen und Tod", an diese Antikriegsstimmungenappelliert.
Ansonsten hielt sich die AKP - wie alle anderen Parteien auch - indieser Frage zurück, da sie sich weder mit den türkischen Militärs, die den mächtigenSicherheitsrat dominieren, noch mit den USA anlegen will, von denen das Land finanziellund militärisch abhängig ist.
Ihr außen- und wirtschaftspolitischer Sprecher MuratMercan hatte der Zeitung taz schon vor der Wahl erklärt: "Diese Entscheidungen sind imNationalen Sicherheitsrat längst gefallen, und wir werden sie nur noch unterschreiben."Erdogan selbst wandte sich zwar gegen ein unilaterales Vorgehen der USA, betonte abergleichzeitig, die AKP werde einen Kriegsbeschluss der UN respektieren.
Auf ihrerWebsite bekennt sich die AKP sogar ausdrücklich zum US-geführten "Kampf gegen denTerrorismus". Es heißt dort: "Unsere Partei wird dem internationalen Kampf gegen denTerrorismus und der Teilnahme der Türkei an diesem Kampf Priorität geben. Wir werdenunsere langjährigen Beziehungen zu den USA im Bereich Verteidigung fortsetzen und dieseBeziehung auf den Bereich der Wirtschaft, Investitionen, Wissenschaft und Technologieausbauen."
Auch die beiden Männer, die als Ministerpräsidenten im Gespräch sind,unterhalten gute Beziehungen zu den USA. Abdullah Gül, der in London und IstanbulÖkonomie studierte und fließend englisch spricht, gehörte im Juli zu den zwei DutzendGästen, die der stellvertretende amerikanische Verteidigungsminister Paul Wolfowitzanlässlich eines Ankara-Besuchs zum Essen eingeladen hatte. Und der Politologe VecdiGönül hat an einer kalifornischen Universität seinen Master gemacht.
Kaum warendie Wahlurnen geschlossen, bemühte sich Erdogan, etwaige Befürchtungen in- undausländischer Wirtschaftskreise zu zerstreuen, die AKP könnte das Land auf einenantiwestlichen Kurs führen oder ihre Wahlversprechen gegenüber den Armen wahr machen. Erversprach, am Stabilitätsprogramm festzuhalten, das die Vorgängerregierung mit dem IWFvereinbart hatte, den Kurs Richtung EU fortzusetzen und das Land für ausländischeInvestitionen zu öffnen. Der Istanbuler Aktienindex legte darauf innerhalb eines halbenTages um 7,2 Prozentpunkte zu.
Das Militär versuchte Erdogan zu beruhigen, indemer mehrere Zitate des Staatsgründers Atatürk in seine erste öffentliche Rede einflochtund seine triumphierenden Anhänger zur Mäßigung aufrief. Er versprach, Vorgänge, wie siein den neunziger Jahren zur Absetzung der islamistischen Regierung von Necmettin Erbakangeführt hatten, werde es nicht geben. Erbakan hatte nach seiner Amtsübernahme 1996 alserstes den Iran und Libyen besucht und war von den Militärs nach nur einem Jahr aus demAmt gedrängt worden.
Die Militärs haben in der Vergangenheit immer wiedereinflussreiche islamistische Parteien verbieten lassen, das letzte Mal im Januar 1998(Wohlfahrtspartei) und im Juni 2001 (Tugendpartei). Sollten sie dasselbe mit der AKPversuchen, käme dies angesichts des Fehlens jeder parlamentarischen Alternative einerRückkehr zur Militärdiktatur gleich. Beobachter fürchten, das Land würde dann ähnlich wieAlgerien, wo seit der Unterdrückung der Islamisten nach einem Wahlsieg Bürgerkriegherrscht, ins Chaos stürzen.
Europäische Union
Die europäischen Regierungenreagierten abwartend auf den Wahlsieg der AKP. Die EU hatte der Türkei 1999 nicht zuletztdeshalb den Status eines Beitrittskandidaten zugestanden, weil sie sich davon eineStärkung prowestlicher Kräfte erhoffte. Der Erfolg der Islamisten wird daher alsRückschlag empfunden. Gleichzeitig hat Erdogan aber deutlich gemacht, dass er den KursRichtung EU fortsetzen will.
Bereits am Dienstag trat er mit Deniz Baykal, demFührer der einzigen im Parlament vertretenen Oppositionspartei CHP, vor die Presse, umgemeinsam für einen EU-Beitritt der Türkei zu werben. Überraschend schlug er dabei aucheine neue Lösung für den Zypern-Konflikt vor, der den Beziehungen zur EU bisher im Wegestand: Die Spaltung der Insel in einen türkischen und einen griechischen Teil solle nachdem "belgischen Modell" überwunden werden - durch eine zentrale Verwaltung beiweitgehender Autonomie der beiden Volksgruppen.
In der türkischen Bevölkerung istein EU-Beitritt sehr populär. Laut Umfragen wird er von 70 Prozent befürwortet -allerdings aufgrund falscher Vorstellungen. Die meisten erhoffen sich davon mehrWohlstand, Demokratie und Freizügigkeit. Auf die harten wirtschaftlichen Maßnahmen,welche die EU zur Voraussetzung für einen Beitritt macht, sind sie dagegen nichtvorbereitet.
Vergleicht man die Hoffnungen und Erwartungen, die Erdogan und dieAKP im Wahlkampf geweckt haben, mit ihrem schnellen Einschwenken auf den Kurs von IWF,der USA und der EU nach der Wahl, so wird deutlich, dass ihr Wahltriumph nur einvorübergehendes Stadium in der anhaltenden politischen und ökonomischen Krise der Türkeidarstellt. Die Wut und Empörung, die sich gegen die etablierten Parteien richtete, wirdauch auf die AKP zurückschlagen.
Ein Ausweg aus dieser Krise ist nur auf derGrundlage einer internationalen sozialistischen Perspektive möglich, die die Arbeiter undArmen in Stadt und Land im Kampf gegen die herrschende Elite mit den Arbeitern Europasund der USA vereint."