Von den Opfern zu den Tätern
Etwa 3000 Kurdinnen kämpfen gegen das türkischeMilitär. Sie verstricken sich in Gewalt und Terrorismus. Was treibt siean?
Wenn sie etwas sagt, was ihr besonders wichtig ist, streckt sie denrechten Zeigefinger aus und sticht in die Luft. "Die kurdischen Frauen sindfortschrittlicher als manche türkischen und als die irakischen. Und das ist nicht zuletztauch das Verdienst der PKK." Was sie so leidenschaftlich vorträgt, ist das Bekenntnis zueiner terroristischen Organisation. Warum wählt eine junge Frau den bewaffneten Kampf, umgegen Unterdrückung zu kämpfen? Weshalb wählt sie Mord und Totschlag statt friedlichenWiderstands wie Mahatma Ghandi oder Nelson Mandela?
Beritan Avasin* sitzt aufdem Sofa einer kurdischen Familie im Amsterdamer Migrantenviertel Indische Buurt. Bevorsie in die Niederlande kam, war sie elf Jahre eine kurdische Guerillera in den Bergen desNordirak. Mit der Presse redet sie jetzt zum ersten Mal. Sie trug eine Waffe und eineUniform in Camouflage, und wenn es keine "außergewöhnliche Situation" gab, wie sie esnennt und damit Gefechte mit dem türkischen Militär meint, habe sie sich mit ihrenKameradinnen in die Natur zurückgezogen. "In den Bergen wirst du dir bewußt über deineeigene Kraft", sagt Avasin.
Gewalt habe sie als einzige Möglichkeit gesehen,gegen die Unterdrückung durch die Türkei zu kämpfen, sagt sie. In ihre Stirn graben sichzwei Falten. Dahinter sitzt die Erinnerung. Als sie 18 Jahre alt war, wurde Avasin voneinem Sonderkommando der türkischen Polizei verhaftet, drei Tage festgehalten und nacheigenen Aussagen gefoltert. Sie habe das kurdische Neujahrsfest feiern wollen, doch dieKultur ihres Volkes war in der Türkei lange Zeit verboten und ist es teilweise noch."Nach der Entlassung hatte ich zwei Möglichkeiten: als Spitzel für die türkische Polizeizu arbeiten - oder Flucht." Avasin ging über die südtürkische Grenze in den Irak.
Ihre Eltern und sechs Geschwister seien stolz gewesen, daß sie "in die Berge"ging, ein kämpfendes Mitglied der PKK wurde, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei.Daß sie selbst würde töten müssen, habe man sogar als gerechte Rache empfunden.
Während des 15jährigen Konfliktes, der 1999 mit der Ausrufung der Waffenruheseitens der PKK endete, starben etwa 37 000 Menschen. Die Feuerpause ist seit vergangenemSommer beendet, und wie Avasin es damals tat, treten dieser Tage wieder vermehrt Männer,doch vor allem Frauen der kurdischen Freiheitsbewegung bei. Etwa 10 000 gehören derGuerilla an, mindestens 30 Prozent der Kämpfer seien Frauen, schätzt Avasin. Diesekämpften nicht nur gegen türkische Soldaten, sondern auch gegen die Unterdrückung derFrauen. In der südöstlichen Türkei leiden sie unter dem Patriarchat. Es ginge ihnenweniger darum, den Geschlechterkampf mit Waffen auszutragen. Vielmehr habe sie dieGleichberechtigung in der PKK geschätzt, sagt Avasin.
DieEU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beflügeln die Hoffnung, daß es auf friedlichemWeg zur Anerkennung der kurdischen Identität kommt. Zwar hat die Regierung in Ankara,teilweise unter Druck der Europäischen Union, die Todesstrafe abgeschafft und versucht,auch in ländlichen Gebieten mit Traditionen wie Zwangsverheiratungen zu brechen. Doch dieReformen touchierten nur am Rand die kurdische Frage. Noch immer werden Sprachkursegeschlossen, Konzerte abgebrochen und kurdische Säuglingsnamen abgewiesen.
Doch statt darauf friedlich und politisch zu reagieren, lieferte sich die PKKjüngst neue Gefechte und mordete mit Anschlägen - eine Art Standgericht gegen Unschuldigewegen abgebrochener Konzerte und gestrichener Sprachkurse. Das letzte Attentat auf einenTouristenbus forderte im Juli in der Ägäis-Stadt Kusadasi fünf Tote und 13 Verletzte. Esist bis heute nicht aufgeklärt. Frauen wie Avasin könnten zu den Tätern gehören. Sierechtfertigt das so: "Wir wollen, daß unsere Identität akzeptiert wird und daß die Kurdenals Gesprächspartner ernst genommen werden." Und dafür nehmen die kurdischen Kämpfer denTod türkischer Soldaten und Touristen in Kauf? "Wir, die kurdischen Frauen, sind gegenden Krieg. Zu viele Mütter weinen - türkische und kurdische. Aber wenn die Türken unsumbringen wollen, verteidigen wir unser Recht zu leben."
Im Moment schweigendie Waffen, offiziell noch bis morgen, dem 3. Oktober. "Wir tragen eine ebenso großeVerantwortung, daß es nicht erneut zu Blutvergießen kommt, wie die Europäische Union",sagt Avasin. Von ihr erhofft sie sich weiteren Druck, die kurdische Frage zu lösen. Dertürkische Ministerpräsident Erdogan räumte im vergangenen Monat das erste Mal in seinerAmtszeit ein, daß es "ein kurdisches Problem" gebe. "Können Sie sich das vorstellen? Dahat im 21. Jahrhundert das erste Mal ein türkischer Staatsmann zugegeben, daß wirexistieren."
Avasin arbeitet in Den Haag im Verband kurdischer FrauenEuropas. Zehntausende von Frauen sind Mitglied ähnlicher Verbände. Sie begehren auf gegentödliche Traditionen wie Ehrenmorde. Letztes Jahr erstach in Diyarbakir ein Mann seineSchwester. Das 15jährige Mädchen erwartete ein Kind von seinem Vergewaltiger, der Bruderwollte die Ehre der Familie retten. Hunderte von Frauen versammelten sich, wuschen dastote Mädchen und trugen es quer durch die Stadt. "Die Prozession kam einem Frauenaufstandgleich", sagt Avasin. "Und kein Mann wagte es, sich zunähern."
http://www.wams.de/data/2005/10/02/783805.html (Archiv-Version vom 27.04.2006)