Dankbarkeit für die cccp
11.09.2006 um 12:59
KRONSTADT:
PROLETARISCHER AUSLÄUFER DER RUSSISCHEN REVOLUTION *)
von Cajo Brendel
I.
Die Deutung jener historischen Ereignisse, dievor mehr als fünfzig Jahren als "der Aufstand von Kronstadt 1921" in die Geschichteeingegangen sind (bzw. krampfhaft daraus entfernt wurden),ist aufs engste verknüpft mitder gesellschaftlichen Position des jeweiligen Interpreten oder anders gesagt: sie wirdvon seiner Stellungnahme zu den in der Gesellschaft tobenden Klassenkämpfen geprägt undbedingt. Wer die russische Revolution 1917 als eine sozialistische Umwälzung betrachtet,wer die, in den Jahren des Bürgerkrieges gefestigte bolschewistische Herrschaft für eineproletarische Macht hält, der muß notwendigerweise das, was damals in jener Inselfestungam finnischen Meerbusen vor sich ging, als einen konterrevolutionären Versuch zurStürzung des jungen "Arbeiterstaates" auffassen. Wer umgekehrt gerade im Auftreten derCronstädter einen revolutionären Akt erblickt, der gerät früher oder später zu ganzentgegengesetzten Ansichten über die russischen Entwicklungen und über die wirkliche Lagein Rußland.
Das alles scheint selbstverständlich zu sein. Aber es kommt nochetwas mehr hinzu. Der Bolschewismus ist nicht bloß eine Wirtschafts- oder Staatsform,dessen Existenz damals - nicht nur in Kronstadt, sondern auch in Petrograd, in derUkraine und in großen Teilen Südrußlands - auf des Messers Scheide stand, er bildetgleichzeitig eine in den russischen Revolutionskämpfen gereifte, auf die russischenVerhältnisse zugeschnittene Organisationsform. Nach dem bolschewistischen Oktobersiegwurde und wird sie von den verschiedensten politischen Seiten den Arbeitern aller Länderaufgedrängt. Als sich die Bevölkerung von Kronstadt gegen die Bolschewiki erhob, da hatsie nicht nur die bolschewistischen Machtansprüche entschieden zurückgewiesen, sondernauch die traditionellen bolschewistischen Parteiauffassungen und die Partei als solche inFrage gestellt. Hier liegt der Grund, weshalb jeder Meinungsstreit über organisatorischeProbleme der Arbeiterklasse nur allzuoft die Diskussion über Kronstadt miteinbezieht undweshalb jede Diskussion über Kronstadt unausweichlich auch die Differenzen über dieTaktik und Organisationsfragen des proletarischen Klassenkampfes offenlegt. Das heißtalso: der Aufstand von Kronstadt hat auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immernoch eine brennende Aktualität. Wie kolossal auch seine historische Bedeutung sein mag,sie wird weit überragt von seiner praktischen Bedeutung für die heutigenArbeitergenerationen, für alle, die am proletarischen Kampf teilnehmen. Leo Trotzki wareiner derjenigen, der diese Bedeutung nicht verstand. Als er 1938 seinen Aufsatz "VielLärm um Kronstadt" veröffentlichte (l),seufzte er: "Man könnte glauben, der Aufstand vonKronstadt hat nicht vor 17 Jahren, sondern gestern stattgefunden." Gerade um jene Zeit,als er diese Worte schrieb, unternahm Leo Trotzki tagaus, tagein jede erdenklicheAnstrengung, die stalinistische Geschichtsfälschung und die stalinistischen Legenden zuentlarven. Daß er dabei niemals die Grenze der leninistischen Revolutionslegendeüberschritt, ist eine Tatsache, die wir hier beiseite Lassen können.
II.
Der Aufstand von Kronstadt zerstörte einen sozialen Mythos: den Mythos, daß imbolschewistischen Staat die Macht in den fänden der Arbeiter liegt. Weil dieser Mythosunzertrennlich mit der ganzen bolschewistischen Ideologie verbunden war (und bis heutenoch ist), weil in Kronstadt mit der Verwirklichung der echten Arbeiterdemokratie einbescheidener Anfang gemacht wurde, deshalb bildete Kronstadt für die, sich an der Machtbefindenden Bolschewiki eine tödliche Gefahr. Nicht die militärische Stärke Kronstadts -zum Zeitpunkt des Aufstandes durch den zugefrorenen Meerbusen ohnehin starkbeeinträchtigt -, sondern die entmystifizierende Wirkung des Aufstandes bedrohte diebolschewistische Herrschaft, und das sogar stärker, als es je von Seiten derInterventionsarmeen Denikins, Koltschaks, Judenitschs oder Wrangeis hätte geschehenkönnen.
Aus diesem Grunde waren die bolschewistischen Führer von ihremStandpunkt aus - oder besser gesagt: infolge ihrer gesellschaftlichen Position (die ihrenStandpunkt natürlich bedingte) - einfach gezwungen, ohne Zaudern den Aufstand inKronstadt niederzuschlagen. (2) Während die Aufständischen, wie Trotzki es ihnenangedroht hatte, "wie Fasane abgeknallt" wurden, wurde von der bolschewistischen Führungin ihrer Presse der Cronstädter Aufstand als Konterrevolution bezeichnet. DieserSchwindel wird seit jenen Tagen von Trotzkisten und Stalinisten gleich eifrig verbreitetund hartnäckig aufrecht erhalten.
Der Umstand, daß in bestimmten, sowohlmenschewistischen als auch weißgardistischen Kreisen Kronstadt offene Sympathieentgegengebracht wurde, verfestigte die trotzkistische und stalinistische Version. (3)Eine dürftigere Begründung der offiziellen Legende ist wohl kaum möglich. Hat sich nichtTrotzki selbst in seiner "Geschichte der russischen Revolution" mit vollem Recht über diepolitischen Kenntnisse und über das gesellschaftliche Verständnis des reaktionärenCronstadtsympathisanten Professor Miljukow stark herablassend geäußert? Nur weil Miljukowund die ganze weißgardistische Presse mit Kronstadt sympathisierten, aus diesem Grundesoll der Aufstand von Kronstadt konterrevolutionär gewesen sein? Wie wäre, dieserVorstellung entsprechend, die "Neue ökonomische Politik", die kurz nach Kronstadt inRußland eingeführt wurde, zu beurteilen? Der Bourgeois Ustrialow gab ihr ganz offenseinen Segen! Aber das veranlaßte die Bolschewiki keineswegs dazu, die NEP als"konterrevolutionär" zu verschreien. Diese Tatsache ist ebenfalls symptomatisch für dieganze demagogische Art bei der Legendenbildung. Von letzterer möchten wir uns nunmehrabwenden. Sie ist natürlich von Interesse, schon wegen ihrer sozialen Funktion, diejedoch nur aus dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, aus dem gesellschaftlichenEntwicklungsprozeß, aus dem sozialen Charakter der russischen Umwälzung heraus verstandenwerden kann.
III.
Der Cronstädter Aufstand 1921 bildet den dramatischenHöhepunkt einer Revolution, die ihrem sozialen Inhalt nach kurzerhand als bürgerlichdefiniert werden muß. Er ist von dieser bürgerlichen Revolution der proletarischeAusläufer, genau so wie unter fast ähnlichen Umständen die Mai-Ereignisse in Katalonien1937 den proletarischen Ausläufer der spanischen Revolution bilden oder wie im Jahre 1796die Verschwörung von Babeuf eine proletarische Tendenz in der großen bürgerlichenfranzösischen Revolution darstellt. (4) Daß sie alle drei mit einer Niederlage endeten,hat die gleichen Ursachen; es fehlten jedesmal die Bedingungen und Voraussetzungen füreinen proletarischen Sieg. Das zaristische Rußland nahm am ersten Weltkrieg als einzurückgebliebenes Land teil. Es hatte zwar aus militärisch-politischen Bedürfnissen eineIndustrialisierung vorangetrieben und damit die allerersten Schritte auf kapitalistischemWege zurückgelegt, aber das in diesem Zusammenhang entstandene Proletariat warzahlenmäßig klein im Verhältnis zu der ungeheuren Masse der russischen Bauern. Gewiß, daspolitische Klima des zaristischen Absolutismus hätte den kämpferischen Geist derrussischen Arbeiter außerordentlich gesteigert. Das ermöglichte ihnen, der heranreifendenRevolution ein bestimmtes Gepräge zu geben, konnte aber ihren Verlauf nichtausschlaggebend bestimmen. Trotz der Existenz der Putilowwerke-, der Erdölanlagen imKaukasus, des Kohlenbergbaues im Donetzrevier und der Moskauer Textilfabriken bildete dieLandwirtschaft die wesentliche wirtschaftliche Grundlage der russischen Gesellschaft.Zwar hatte es 1861 so eine Art Bauernbefreiung gegeben, aber trotzdem waren die Überresteder Leibeigenschaft bei weitem nicht verschwunden. Die Produktionsverhältnisse warenfeudalistisch und entsprechend war der politische Oberbau; Adel und Klerus waren dieherrschenden Klassen, die mit Hilfe der Armee, der Polizei und des Beamtentums ihre Machtin dem Riesenreich des Großgrundbesitzes ausübten.
Demzufolge hatte dierussische Revolution des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Aufgabe, den Feudalismusmit seinen sämtlichen Begleiterscheinungen - wie die der Leibeigenschaft - aufzuheben.Sie sollte die Landwirtschaft industrialisieren und unter die Bedingungen der modernenWarenproduktion stellen, sie hatte alle feudalen Ketten der bestehenden Industrie zulösen.
Politisch hatte diese Revolution die Aufgabe, den staatlichenAbsolutismus zu zerschlagen, die Bevormundung durch den Feudaladel aufzuheben und eineRegierungsform und eine Staatsmaschine zu entwickeln, die die Lösung der wirtschaftlichenAufgaben der Revolution politisch garantierten. Es ist klar, daß diese wirtschaftlichenund politischen Aufgaben mit jenen übereinstimmten, die im Westen die Revolutionen des17,, 18. und 19. Jahrhunderts zu erfüllen hatten. (5) Nur wurde die russische Revolution- wie später die chinesische - durch ihre besondere Eigentümlichkeit charakterisiert. InWesteuropa, vor allem in Frankreich, war die Bourgeoisie die Trägerin desgesellschaftlichen Fortschritts, die Vorkämpferin des Umsturzes gewesen. Im Osten warsie, aus dem schon erwähnten Grunde, schwach. Dazu waren ihre Interessen mit denen desZarismus eng verbunden. Das heißt, die bürgerliche Revolution in Rußland mußte ohne dieBourgeoisie und sogar gegen sie vollzogen werden.