Link: www.spiegel.de (extern)GÜNTER GRASS
Der Herr der Binse
Von Henryk M. Broder
EinUnglück kommt selten allein. Ullrich war gedopt, Grass war bei der Waffen-SS. Umgekehrtwäre es natürlich noch schlimmer, aber auch so, wie es ist, fällt das Urteil über diegefallenen Helden vernichtend aus. Wie konnten sie nur? Und vor allem: Warum haben sie esuns nicht früher gesagt?
Ullrich wird sich von seinem Sturz erholen, er ist nochjung. Aber Grass, der große wortgewaltige GG, der Nobelpreisträger, die moralischeInstanz, die Stimme der Entrechteten und Gedemütigten, der Mann für alle Jahreszeiten desFeuilletons, die Quersumme aus Thomas Mann, Frantz Fanon und Popeye, Grass ist erledigt.
Man wird ihm den Nobelpreis nicht aberkennen, die Schweden werden sich nichtblamieren wollen, aber man wird ihn fortan nur noch als die Karikatur seiner selbstwahrnehmen und ihm einen Platz in der Hall of Shame zuweisen.
Man ist versucht,Mitleid mit dem armen GG zu empfinden, wie man es mit jedem Menschen empfinden würde, derauf die 80 zugeht und plötzlich vor einem Scherbenhaufen steht - genau an der Stelle, woer eigentlich die Glückwunschkarten aufbauen wollte. Die Reaktionen auf sein spätesGeständnis, er habe in der Waffen-SS gedient, sagen mehr über seine Freunde und Feindeals über ihn aus.
Auf so einen haben wir gehört?
Es ist, als würdeeine Familie kurz vor Weihnachten erfahren, dass Oma als junge Frau auf den Strichgegangen ist, ausgerechnet Oma, die sich immer als besonders sittenstreng gebärdet undihren Enkeltöchtern das Tragen von Miniröcken verboten hat. Und nun fragen sich alle:Wohin mit Oma? Man mag sie nicht aus dem Hause jagen, aber weiter am selben Tisch mit ihrsitzen, das möchte man auch nicht. Man kann einem/einer 80-Jährigen nicht zum Vorwurfmachen, was er/sie mit 17 gemacht hat. Man kann auch nicht verlangen, dass ein Menschalle Jugendsünden beichtet, sobald er/sie zu einer Person der Zeitgeschichte avanciertist.
In der Empörung über Grass artikuliert sich vor allem die Wut seiner Verehrerüber ihr eigenes Verhalten: Auf so einen haben wir gehört? Von so einem haben wir unsMoral predigen lassen?
Der senkrechte Fall des Bürgers Grassveranschaulicht, wie stark auch in einer liberalen und permissiven Gesellschaft dasVerlangen nach Autoritäten und Wegweisern ist, die einem sagen, wo es lang geht. Umsoheftiger fällt dann die Enttäuschung aus, wenn einem plötzlich bewusst wird, dass man demFalschen hinterher gelaufen ist.
Aber dafür kann Grass nichts, im Gegenteil.Der Politiker Grass hat immer wieder Beweise seiner anmaßenden Inkompetenz geliefert, dievon seinen Anhängern beharrlich als die weisen Worte des großen Vorbeters missverstandenwurden. Grass nannte die DDR eine "kommode Diktatur" und sah in der deutschen Teilungeine "Strafe für Auschwitz"; es verstand sich von selbst, dass er zu den Unschuldigen imWesten gehörte, die das Verbüßen der Strafe den Verurteilten in der DDR überließen.
Große Gesten, großer Eifer
Fast immer, wenn Grass sich zu Wort meldete oderum seine Meinung gefragt wurde, redete er wohlfeilen Unsinn, den er mit großen Gestenbegleitete: Für den Frieden und gegen die Armut, für die Dritte Welt und gegen denKapitalismus, für das Gute und gegen das Böse. Er zitierte gerne sich selbst und wurdegerne von Leuten zitiert, die eine Legitimation brauchten, wenn sie das Prinzip vonUrsache und Wirkung auf den Kopf stellen und Täter zu Opfern stilisieren wollten.
Grass war unter den ersten, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 umVerständnis für die Motive der Terroristen warben und die Ursachen des Terrors im Westenlokalisierten. Wir sollten uns darüber bewusst sein, forderte er immer wieder, dass esunsere Politik ist, die aus den Ausgebeuteten Terroristen macht - auch wenn dieTerroristen aus Mittelschicht-Familien kamen und die Vorteile des guten Lebens imdekadenten Westen genossen hatten. So war es nur konsequent, dass Grass anlässlich derBewerbung Lübecks zur Kulturhauptstadt Europas den Vorschlag machte, eine Lübecker Kirchezur Moschee umzuwidmen. Das wäre "eine große Geste", dazu angetan, die Beziehungen zu denMoslems und zugleich die Chancen Lübecks bei der Wahl zur Kulturhauptstadt zu verbessern."Wieder einmal hatte G.G. den G-Punkt seiner Klientel stimuliert, die im Bestreben, nichtintolerant zu scheinen, einen Masochismus pflegt, der der Selbstaufgabe nahe kommt",schrieb daraufhin Gunther Latsch im SPIEGEL.
Auch wenn es darauf ankam,antiamerikanische Ressentiments zu befördern, legte Grass großen Eifer und Gratismut anden Tag. Beim PEN-Kongress im Mai 2006 in Berlin ("Schreiben in friedloser Welt") hielter eine flammende Rede, die zu einem großen Teil aus einer Verbeugung vor Harold Pinterbestand, der seinerseits in einer Nobelpreisrede vom Dezember 2005 sämtlicheVerfehlungen, Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Amerikaner aufgelistet hatte,von Griechenland bis Chile, von Indonesien bis Haiti.
Pinter rechnete mit denUSA ab und Grass stimmte ihm vorbehaltlos zu. "Harold Pinter hat das Unrecht benannt.Beispielhaft hat er bewiesen, was ,Schreiben in friedloser Zeit' bewirken kann." Und diein Berlin versammelten "Silbenstecher, Lautverschieber, Wörtermacher und Nachrednerunterdrückter Schreie", wie Grass seine Kollegen bezeichnet hatte, dankten es ihm mitminutenlangen Ovationen.
Nie um eine finale Stellungnahme verlegen
Grass war derart damit beschäftigt, Pinter zu preisen und die USA zu verdammen, dasser keinen Satz, kein einziges Wort über den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad verlor,dessen Drohung, Israel von der Landkarte zu tilgen, ihm unmöglich entgangen sein konnte.Angesichts der von den USA in der Vergangenheit begangenen Sünden war das eine Petitesse,die er souverän beschwieg. Auch im Streit um die Mohammed-Karikaturen bezog die"moralische Instanz" eindeutig Stellung. Grass sprach von einer "bewussten und geplantenProvokation eines konservativen dänischen Blattes" und nannte die gewalttätigenAusschreitungen der Moslems eine "fundamentalistische Antwort auf einefundamentalistische Tat". Grass gab sich nicht damit zufrieden, eine Äquidistanz zwischenden dänischen Karikaturisten und dem rasenden Mob herzustellen, wobei der Mob insofern ineiner moralisch überlegenen Position war, weil er nur reagierte, er fällte gleich einGrundsatzurteil: "Wir haben das Recht verloren, unter dem Recht auf freieMeinungsäußerung Schutz zu suchen. So lang sind die Zeiten der Majestätsbeleidigung nichtvorbei, und wir sollten nicht vergessen, dass es Orte gibt, die keine Trennung von Staatund Kirche kennen."
So tollte er durch Raum und Zeit und war nie um eine finaleStellungnahme verlegen. Er gerierte sich als Einzelkämpfer und Querdenker und sprach dochnur das aus, was der bildungsnahe Stammtisch denkt. Zwischendurch forderte er "Respekt"ein, und wenn der ihm verweigert wurde, drohte er nicht nur damit, Deutschland zuverlassen, sondern zog tatsächlich nach Kalkutta. Wo er es freilich nicht lange aushielt,weil niemand von ihm wissen wollte, wie man die Probleme Indiens lösen könnte.
Produkt der Exegeten
Grass ist mindestens genauso das Produkt seinerExegeten, Propheten und Apologeten wie seiner eigenen Umtriebigkeit. Als Dichter ausMangel an Konkurrenz auch dann gefeiert, wenn er schwache Werke vorlegte, als politischerDenker maßlos überschätzt, der kleine Mann im Ohr von Gerhard Schröder, der Herr derBinse.
Dass er vor 60 Jahren der Versuchung nicht widerstehen konnte, derWaffen-SS beizutreten, erklärt er heute damit, dass ihn das "Antibürgerliche" anzog. DieWaffen-SS war die Prätorianer-Garde der Nazis, eine Elite-Einheit. Grass hatte schon frühein Faible für das Elitäre. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ärgerlichan der Affäre ist nur eines: Dass auf dem Umweg über Grass die Waffen-SS rehabilitiertwird. Wenn Grass dabei war und sich die Hände nicht schmutzig gemacht hat, können dieJungs so schlimm nicht gewesen sein, eine kämpfende Truppe eben, mit einem etwasabgehobenen Bewusstsein, der Rohstoff aus dem Romane geformt werden. Das Denkmal istgestürzt. Der Sockel bleibt.
>>>In der Empörung über Grass artikuliertsich vor allem die Wut seiner Verehrer über ihr eigenes Verhalten: Auf so einen haben wirgehört? Von so einem haben wir uns Moral predigen lassen?<<<
Richtig! DAS istwohl das größte Problem in diesem freien Fall...
Gruß