„Sie sehen zu, wie wir ausbluten“
Die Lage für die Bevölkerung im Gazastreifen wird immer kritischer. Das Rote Kreuz berichtet von der „bisher schrecklichsten Nacht“. Auch wer um seine Angehörigen trauert, lebt gefährlich.
Wie schlafende Puppen sehen sie aus. Drei Kleinkinder auf dem Boden eines überfüllten Leichenschauhauses im Gazastreifen. Über sie gebeugt, ihr Vater. Er hat Tränen in den Augen. „Bitte steht auf. Ich brauche Euch“, schluchzt er. Insgesamt 13 Verwandte verlor der Palästinenser bei einem israelischen Bombenangriff auf sein Haus östlich von Gaza-Stadt. Auch die Mutter seiner Kinder wurde getötet.
Wut und Verzweiflung wachsen bei den Palästinensern. Dschaber Abdel-Dajem wachte in einem Zelt über die Leiche seines Neffen, eines Notarztes, als er unter Beschuss geriet. „Sie haben uns plötzlich angegriffen. Dann eilten wir mit den Opfern zum Krankenhaus und sie bombardierten uns wieder“, sagt er. Die israelische Führung gehöre vor ein internationales Gericht. Zugleich warf er den arabischen Staaten Untätigkeit vor: „Gott bestrafe diejenigen Machthaber, die zusehen, wie wir ausbluten.“
Wachsender Hass auf Israel
Vor den Bäckereien in Gaza-Stadt haben sich lange Schlangen gebildet. Viele der mehreren hundert Palästinenser warten schon seit dem frühen Morgen auf Brot. „Ich bin seit drei Stunden hier und werde noch länger warten müssen“, sagt Abu Othman, Vater von sieben Kindern. „Vielleicht trifft uns eine Rakete. Dann sind wir wenigstens unser elendes Leben los.“ Er empfinde zunehmend Sympathie für die radikal-islamische Hamas und deren Raketenangriffe auf Israel, sagt er. „Ich habe die Raketen immer verurteilt. Jetzt sehe ich das nicht mehr so kritisch.“ Nun wünsche er sich auch, dass in Israel Busse in Luft gejagt würden.
Im Gazastreifen besteht nach Einschätzung des Internationalen Roten Kreuzes eine „humanitäre Krise“ in vollem Ausmaß. Die Lage für die palästinensische Zivilbevölkerung sei „als Folge von zehn Tagen ununterbrochener Kämpfe extrem und traumatisch“, sagt der Delegationsleiter der Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Pierre Krähenbühl. Die Nacht zum Dienstag sei nach Informationen von IKRK-Mitarbeitern in Gaza die „bisher schrecklichste“ gewesen. Die Zahl von getöteten oder verletzten Bewohnern steige weiter. Die prekäre Stromversorgung in der Stadt Gaza könne jeden Augenblick zusammenbrechen, so dass dann auch 500 000 Menschen ohne sauberes Wasser wären.
Am vierten Tag der israelischen Bodenoffensive kam es zu heftigen Straßenkämpfen am Rand der Stadt Gaza. In der Siedlung Schadschaijeh lieferten sich israelische Soldaten und Hamas-Kämpfer heftige Gefechte, wie aus dem israelischen Verteidigungsministerium verlautete. Bei den Angriffen kamen nach Angaben von Ärzten mindestens 18 Palästinenser ums Leben. Von ihnen gehörten demnach lediglich zwei zu den Kämpfern der Hamas, denen die israelische Offensive gilt.
Auch Schulen der Vereinten Nationen geraten unter Beschuss. Laut UN starben bei einer Attacke auf eine Schule im Flüchtlingslager Tschati drei Menschen. In die vom UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) betriebene Schule hatten sich rund 450 Menschen vor den Bombenangriffen geflüchtet. Zwei weitere Menschen kamen nach Angaben von Krankenhausmitarbeitern bei dem Beschuss einer weiteren Schule in Chan Junis ums Leben. In die Stadt waren am Morgen israelische Bodentruppen eingerückt.
Opfer auch in Israel
Auch auf israelischer Seite gab es Opfer. Nördlich von Gaza wurde nach Armeeangaben am Montagabend ein israelischer Offizier getötet. Die Umstände seien noch unklar.
Trotz der massiven Militäraktion dauerten die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf Israel weiter an. Eine vom Gazastreifen abgefeuerte Rakete erreichte erstmals eine 45 Kilometer von der Grenze entfernte Stadt auf israelischem Gebiet. Bei dem Einschlag in Gedera wurde ein Säugling verletzt.
Seit die Armee ihre Bodenoffensive begonnen hat, kamen vier israelische Soldaten ums Leben. Israel hatte die Offensive am 27. Dezember mit Luftangriffen gestartet. Dabei wurden nach Angaben palästinensischer Ärzte mehr als 540 Palästinenser getötet. Israel begründet den Militäreinsatz gegen die im Gazastreifen herrschenden Hamas mit dem anhaltenden Raketenbeschuss durch radikale Palästinenser.
Große Raketen-Vorräte
Nach einem der Zeitung „Maariv“ vorliegenden israelischen Geheimdienstbericht könnte die Hamas noch mehrere Wochen lang Raketen auf israelisches Territorium abfeuern. Die Hamas verfüge über ausreichende Vorräte an Raketen und Granaten, schreibt General Jossi Beidatz in der Analyse. Israel lehnt eine Waffenruhe bislang ab. Laut Verteidigungsminister Ehud Barak wurden die Ziele noch nicht erreicht.
Indes mehreren sich weltweit die Proteste gehen das israelische Vorgehen. Auch die jüdische Gemeinde Australiens übt heftige Kritik. Der derzeitige Krieg sei „unmenschlich, nutzlos und verabscheuenswert“, heißt es in einer in Sydney veröffentlichten Erklärung, die rund hundert australische Juden, darunter zahlreiche Prominente, unterschrieben. Die Unterzeichner erkennen zwar Israels Recht auf Selbstverteidigung an, bezeichneten den Militärangriff aber als „völlig unverhältnismäßig“.
Die Bundesregierung fordert ebenfalls eine schnelle Waffenruhe. Zugleich betonte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm, dass die Verantwortung für den jüngsten Konflikt bei der radikal-islamischen Hamas liege. Eine Waffenruhe sei nur möglich, wenn die Hamas damit aufhöre, Ziele in Israel zu beschießen und auch der Schmuggel von Waffen in den Gazastreifen unterbunden werde.
http://www.focus.de/politik/ausland/nahost/gaza-sie-sehen-zu-wie-wir-ausbluten_aid_359883.html