@felixkrullIch bezog mich auf nachfolgenden Text:
Ginge es darum, der individuellen Toten zu gedenken, dann würde niemand sich anmaßen, den Schmerz von Kindern, Frauen und Männern, nach Tätern und Opfern einzuteilen. Bei der Frage öffentlichen Gedenkens geht es allerdings gerade nicht um die individuellen Toten, sondern um die Frage, ob man Täter und Opfer im selben Kontext gedenken solle. Hier geht es um Nationalismus, das Prinzip, das die Nation zur Nation macht, indem es von den Individuen abstrahiert.
Daher war Bitburg auch weltweit ein Skandal, da "Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft" zusammen geehrt werden sollten, so als ob die Nazis nicht gerade sich vom Menschen zugunsten der Nation verabschiedet hatten und in äußerst aggressiver Weise die Individuen zu Deutschen degradierten.
Als Deutsche sind sich alle gleich und als Deutsche folterten, vertrieben und mordeten die Deutschen. Die Deutschen waren die Täter, Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Russen und Polen u.a. waren die Opfer. Es handelte sich keinesfalls um Einzeltäter, sondern um ein Kollektiv, nämlich der zu Deutschen abstrahierten Individuen, das einen Verwaltungsmassenmord betrieb.
Wer sich als Deutscher identifiziert, identifiziert sich auch mit dem Massenmord, ob er will oder nicht. Es gilt sich der Identifikation mit dem menschenfeindlichen Kollektivismus von Volk und Nation zu verweigern.
Weil die Rechte, um der Herrschaft über die Individuen willen, die identifikationshemmenden Abschnitte der Geschichte dieses Jahrhunderts vergessen machen will, versucht sie - nicht erst - seit Bitburg Täter und Opfer unterschiedslos zu gedenken. SS-Gräber und KZ-Leichenhügel seien das selbe. Die Erinnerung daran, wer zweimal in diesem Jahrhundert einen Weltkrieg angezettelt hat, soll planiert werden.
Um die Herrschaft über die sozial Benachteiligten aufrechtzuerhalten, sollen alle Individuen homogenisiert werden, sie sollen sich als "Volk" einem Begriff fügen, der der Realität keineswegs entspricht. Eine Identität der Individuen als Deutsche ist ein sinnloser Begriff, die Individuen sind als Individuen nicht identisch, ihre Gemeinsamkeit ist fiktiv. Als Gleiche konstituieren die Individuen sich nur durch Abstraktion von ihrer Individualität.
Und in der Form der Abstraktion von ihrer Individualität haben die Deutschen auch gemordet. So wie sie den Opfer im Lager ihre Individualität nahmen, so nahmen sie sich selber auch ihre Individualität. Daher macht es auch keinen Sinn - außer nach strafrechtlichen Gesichtspunkten - zwischen guten und bösen Deutschen zu unterscheiden. Das Böse war das Deutsche, die Abstraktion von der Individualität der Individuen, die Deutschland zwischen 1933 und 1945 vollzogen hat.
Daher kann nur eine Lehre aus den Jahren gezogen werden, eine antinationale, d.h. antideutsche Einstellung sich zu erarbeiten und sich vom menschenfeindlichen Kollektivismus von Volk und Nation zu distanzieren. Das Inhumane liegt nicht erst in der Übertreibung des Kollektivismus, sondern im Prinzip.
Die Deutschen sind zu Menschen zu emanzipieren. Schon Montesquieu weigerte sich kategorisch, etwas seinem Land Nützliches zu tun, wenn es einem anderen schadet: "denn ich bin ein Mensch, bevor ich Franzose bin, und Mensch bin ich notwendigerweise, Franzose aber nur durch Zufall".
Die Geschichte des Nationalismus beginnt, so sind die Historiker sich grundsätzlich einig mit dem revolutionären Umbruch in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts. Es läßt sich ein Ort angeben, nämlich Frankreich, wo erstmals atomisierte und über die Abstraktion der Nation homogenisierte Massen politisch mobilisiert wurden. Es blieb nicht beim Köpfen des Königs, sondern endeten im Terror. Wo Abstraktion sich in der Praxis Geltung verschaffen, dort nehmen die Individuen Schaden. L'amour de la patrie hat Leichengeruch von Anfang an an sich gehabt. Am Kollektivwesen konnten die Menschen noch nie genesen. Der menschenfeindliche Kollektivismus ist stets mit der heimlichen Einsicht verbunden, dass es mit der Gemeinschaftlichkeit nicht so weit her ist und dass der Preis die Auslöschung des Individuums im Kollektiv ist. Ein Massenglauben, der an sich selber von Anfang an zweifelt neigt zum Fundamentalismus, als einer Auflösungserscheinung dessen vorauf man sich beruft. Sahen sich die französischen Revolutionäre immerhin als diejenigen, die mit ihrem Werk die allgemeine Glückseligkeit fördern, so verschwindet die jakobinische Inszenierung der Nation als moralischer Anstalt zur Verbesserung des Menschen sehr bald. Nach dem Ende der Revolution und ihres bonapartistischen Epilogs betrat der Liberalismus die Bühne, der immerhin die Einschmelzung der Individuen in einen organischen Staat strikt ablehnte und den "friedlichen Genuss der persönlichen Unabhängigkeit" propagierte, ein konstitutioneller Nationalismus, kein völkischer oder wie Guizot sich ausdrückte: "L'ordre, la légalité, la liberté constitionelle". Die Erfahrung des Terrorismus ließ die Liberalen des 19 Jahrhundert den Nationsbegriff mit Distanz betrachten. Die rationale Vergesellschaftung wurde stärker betont, allerdings ohne auf den esprit national ganz zu verzichten. So gab das Bürgertum den Humanismus und Rationalismus preis. Wie Stanislav Lec schon sagte, kann nicht bloß durch ein Schreibfehler sich Rationalismus in Nationalismus verwandeln. Nach 1815 waren es gerade auch die Liberalen, die den nationalen Mythos schürten. War im 18.Jahrhundert unter Nation noch der explizite, besondere Charakter, der durch Gesetze, Verfassung und politische Institutionen gemeint, so schlug in dem Moment, wo der Dritte Stand selber einer Klassenspaltung verfiel, der konstitutionelle Nationalismus in den völkischen Nationalismus um. Was von Anfang an immer dabei war, das nationale Charisma, die religiösen Motive der Lehre vom Corpus Mysticum, wie sie schon bei Sieyes vorliegen und sich im Jakobinismus entfalten und bis in das 20 Jahrhundert nachwirkt, fasst die Nation als Korpus. Im völkischen Nationalismus wird die Nation von einem geschichtlichen Resultat in den "Grund alles geschichtlichen Geschehens"(Ziegler) umgelogen. Die Nation wird zum Prius. Das wirkt noch in der törichten Auffassung nach, der Nationalismus sei gegenüber der Nation sekundär, eine bloße Übertreibung und nicht dasjenige was die Nation zur Nation erst macht.
Der Antipolitische Radikalismus der politischen Romantik war eine säkularisierte Version des Pietismus, eine religiösen Bewegung ohne Gott, die Staat und Nation in eine ausseralltägliche Glaubens- und Liebesgemeinschaft verwandelt wollte. Abstrakter Atomismus der Individuen, dem ein liberaler rationalistischer Geist entsprach, war von Anfang an auch mit einer religiösen Gefühlsphilosophie verbunden. Gerade der Pietismus war gleichermaßen Einfallstor für die Deutsche Aufklärung gewesen. Während in Frankreich seit dem 16.Jahrhundert die Religion neutralisiert wurde, wurde in Deutschland dieser Schritt der antireligiösen Aufklärung nicht vollzogen, es gab kein Holbach oder Helvetius oder Melier. Allerdings änderte das sich mit dem modernen Antisemitismus, der in Deutschland mit den Nationalismus und Rassismus verschmolz. Ein alter jüdischer Witz: "Der aufgeklärte Goj sagt dir: 'Jesus ist eine Märchenfigur, es gab ihn überhaupt nicht, aber die Juden haben ihn gekreuzigt, das ist sicher.." beschreibt sehr schön den Bezug des Nationalismus zur Geschichte, sie dient als Quelle der Mythenbildung.
Die Ideologien des Nationalismus und Rassismus legitimieren nur eine Verfolgungspraxis, sobald der Nationalismus erfolgreich zur Bildung von Nationen geführt hat, die zwar keine real Freie und Gleiche schufen, sondern nur eine fiktive Gleichheit, aber gerade aufgrund der bloßen Fiktivität eines Unterschiedes bedurfte, dem gemäß die Gleichen sich von den Anderen unterschieden. So ist Volk und Nation als die institutionalisierten Formen von repressiver Gleichheit nur unter der Bedingung aktueller bzw.. potentieller Repression gegen die Fremden möglich. Wo der Nationalismus vor allem die Funktion hat, über die größer werdende Diskrepanz zwischen arm und reich hinwegzutäuschen, ist die Repression gegen Fremde vorgezeichnet, so wie die Idee des Teufels, wegen der Anschaulichkeit auch der Hexenverfolgungen bedurfte. Um zu beweisen, daß der Teufel existiert muß man solange foltern, bis jemand zugibt vom Teufel verführt worden zu sein und ihm auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Ebenso bedarf es des Völkermordes, um den Leuten die Gleichheit aller im abstrakten Kollektiv von Volk und Nation klarzumachen, indem Täter und Opfer sich unterscheiden.
Allerdings endet es im Paradoxon, dass Täter und Opfer letztlich, auf verschiedene Weise ihre Individualität verlieren, die einen als Folterer, Mörder, Helfeshelfer oder Mitläufer bzw. Schweiger (wie das doppeldeutige Wort "bystander" im Englischen ausdrückt), die anderen durch ihre Behandlung.
Das berechtigt allerdings nicht, Täter und Opfer in einen Topf zu werfen und die Gewalt der Täter und die sie bekämpfende Gewalt in einem Atemzug zu erwähnen und den Unterschied auszulöschen.
Die Bomben auf Deutschland richteten sich gegen ein Kollektiv, in dem die Individualität erlosch, ein mordendes Kollektiv, den Deutschen, die sich nur durch die Distanzierung, durch eine antideutsche Einstellung zu Menschen emanzipieren hätten können, durch den Widerstand gegen die Kollaboration mit der Nation.
Wer sich mit dem Deutschsein identifiziert, identifiziert sich auch mit der Nazivergangenheit, darum kommt er nicht herum. Nur wer sich dieser Zeit vergewissert und sich erinnert und die Konsequenz zieht, sich vom Deutschsein zu distanzieren, kann sich Individualität ein Stück weit bewahren. Individualität ist nur im Widerstand gegen Volk und Nation zu erlangen, durch die Emanzipation der Deutschen zu Menschen.
Menschen sind wir mit Notwendigkeit, Deutsche nur aus dem puren Zufall, der bloßen Gewalt. Daß der Staat uns zusammen zwingt und andere ausgrenzt, ist genug, man muß sich selber nicht das noch antun, was Volk und Nation einem antun, die Auslöschung der Individualität im menschenfeindlichen Kollektivismus der Nation.
Q:
http://www.martinblumentritt.de/agr68.htm