paranomal schrieb am 20.12.2022:Möglichkeit einer Erklärung dafür, wieso Leute, die man (tatsächlich oder fälschlicherweise) politisch links einordnet, für solche offensichtlich regressiven Bewegungen zu haben sind
ich will mal zwei verschiedene Erklärungsversuche unternehmen:
1) die "Berührungsängste" in Richtung "Nazi" haben in den letzten 10 Jahren deutlich abgenommen. Das hat meiner Ansicht nach viel mit einem inflationären Gebrauch des Labels "Nazi" als Totschlagargument zu tun:
in den 90ern war "Nazi" jemand, der mit Baseballschläger oder Molotovcocktail bewaffnet Jagd auf Ausländer oder Behinderte machte, in den 70/80ern war "Nazi" jemand, der paramilitärische Übungen veranstaltete und illegale Waffenlager anlegte, um Terror vorzubereiten, in den 60ern war "Nazi" jemand, der in Erinnerungen schwelgte, wie toll es bei Hitler war, wie der Führer auf dem Dorfplatz aufgetreten war, und der die "deutschen Ostgebiete" zurückerobern wollte und die Hippies in die Gaskammer treiben wollte oder "die Juden für unseren Untergang" hielt...
Alles Gruppen, mit denen der "Normalbürger" sich nicht identifizieren wollte und konnte...
Heute hingegen wird das Totschlagwort "Nazi" auch von einigen (sehr lautstarken) Gruppen für Dinge verwendet, die bis vor wenigen Jahren noch allgemeiner Konsens waren oder höchstens als "konservativ" galten, zB. die Forderung, Grenzkontrollen durchzuführen und Nicht-Berechtigte abzuweisen (bis 1992 auch in Europa Normalität und im Großteil der Welt auch heute eine Sebstverständlichkeit), die Forderung, straffällig gewordene Ausländer auszuschaffen, der Tenor des "Asylkompromisses" von 1993, der Wunsch, in den Nachrichten die Herkunft von Tätern zu erfahren usw., all dies wird plötzlich als "Nazi" bezeichnet. In extremeren Fällen sogar solche Dinge wie zB. die eigene Sprache nicht "gendergerecht" verhunzen zu wollen oder es abzulehnen, dass Transvestiten in Kindergärten auftreten... Oder in der Vergangenheit immer neutrale Vokabeln wie zB. "Zigeuner" zu verwenden plötzlich als "Nazi" gelten...
Folge dieser immer weiteren Definition, dieses inflationären Gebrauchs des Labels "Nazi" ist meines Eindrucks nach, dass das Label "Nazi" an Schrecken verliert und damit die "Berührungsängste" zu als "Nazi" bezeichneten Gruppen nachlassen!
Wenn "Nazi" jemand ist, der von Hitler schwärmt, illegale Waffen sammelt oder Behinderte mit dem Baseballschläger verprügelt, nein damit will man nichts zu tun haben, wenn aber "Nazi" jemand ist, der einfach nur konservative Werte aus der Ära Kohl vertritt, dann ist das kein Grund, von dem Abstand zu halten...
Ich denke, dies ist ein Grund, warum sogar Hardcore-Nazis es inzwischen eher leichter haben, in der Mitte der Gesellschaft Anschluss zu finden, sie wirken weniger "bedrohlich" oder verrückt, da sie im Windschatten anderer schwimmen können, die höchstens konservativ sind, weder bedrohlich wirken noch sind, aber trotzdem als "Nazi" bezeichnet werden.
2) die Corona-Pandemie hat sowieso das Links-Rechts-Schema durcheinander geworfen, bzw. bei Parteien zu Reaktionen geführt, die just entgegen dem stehen, was den Grundprinzipien der Parteien als Reaktion eigentlich entsprechen würde.
Ich denke, dass daher das Links-Rechts-Schema hier nicht wirklich anzuwenden ist, sondern eigentlich die Leiste Totalitarismus - Kollektivismus - Liberalismus - Anarchie anzuwenden ist. Es geht bei Fragen zu Anti-Corona-Massnahmen und speziell bei der Frage der Impfpflicht nicht um links oder rechts, sondern um die Frage, wieviel Staatsführung oder wieviel Eigenverantwortung und Freiheit angemessen ist.
Und da können Parteiungen, die im links-rechts-Schema weit auseinander liegen, dennoch sehr ähnliche Antworten bevorzugen. Da kann zB. eine linke Partei eine strenge Staatsführung und Solidarität der Bevölkerung einfordern (nicht zufällig hatte die DDR weitaus weitergehende Impfpflichten verglichen mit der BRD), es kann aber auch eine weit rechts stehende Partei "einen gesunden Volkskörper" fordern und eben vom einzelnen fordern, sich im Interesse dessen medizinischen Massnahmen zu unterwerfen. Es kann auch eine eher mittige Partei in einem Wohlfahrtsstaat von den Bürgern im Interesse der Stabilität des Wohlfahrtssystems fordern, sich medizinischen Massnahmen zu unterwerfen.
Andererseits aber vertreten nicht nur auch, sondern gerade links stehende Parteien die Achtung der individuellen Entscheidung des Einzelnen ("Mein Körper gehört mir") und können daher staatliche Zwänge ablehnen. Und andersrum argumentieren in gleicher Weise auch sehr weit rechts-konservativ bis rechts-extrem Stehende in dieser Weise, zB. "MAGA"-Amis, die Krankenversicherungen als Sozialismus ablehnen...
Dass die Rechtsextremen in Deutschland auf den Zug der Massnahmen- und Impfgegner aufgesprungen sind, halte ich eher für Zufall, nämlich der zufälligen Tatsache geschuldet, dass wir momentan (auch schon mit Merkel) eine eher links orientierte Regierung haben und die Rechtsextremen eben einfach alles ablehnen, was von dieser Regierung kommt. Ich bin mir sicher, dass die Rechten im Falle dessen, dass wir zufällig zu dieser Zeit eine rechts orientierte Regierung gehabt hätten (zB. eine CDU Minderheitsregierung mit AfD Duldung) vorneweg nach mehr Staatsdirigismus und noch mehr Massnahmen gerufen hätten! Dafür spricht auch, dass die AfD tatsächlich im Frühjahr 2020 die erste Partei im Parlament war, die Massnahmen gefordert hat (gibt da eine interessante Pressemitteilung von Alice Weidel im AfD Pressearchiv, wo sie dringend Massnahmen fordert...)
Ich sehe Rechte und Rechtsextreme bei den Massnahmen- und Impfgegnern daher nur als zufällige Mitläufer und nicht als Kern dieser Gruppen, im Kern sehe ich diese Gruppen politisch eher im Liberalismus bis Anarchismus angesiedelt! Und ich habe Verständnis dafür, dass die an ihrer Überzeugung festhalten und sich nicht von den Rechten vertreiben lassen wollen!