Al-Qaidas Agenda 2020
30.09.2005 um 00:25
SOLI INVICTO
Dr. Abdul Qadeer Khan, den sie in Pakistan als "Vater der islamischen Atombombe" verehren, weil er seiner Nation mit der Entwicklung von Kernwaffen militärische Sicherheit vor dem mächtigen und verhassten Nachbarn Indien gebracht hatte, gestand am 4. Februar 2004 öffentlich ein, Libyen, den Iran und Nordkorea mit geheimem Wissen und ausgefeilter Technik zur Urananreicherung versorgt zu haben. Khans mehr als einhundert Millionen Dollar schwerer Deal war kurz zuvor aufgeflogen. Libyens Staatschef Muammar Gaddafi hatte daraufhin zwar seinen Bombenplänen abgeschworen, aber die Mullahs in Teheran und der Despot in Pjöngjang besaßen dank Khans Entwicklungshilfe inzwischen eine zweite Option für Bau von Atombomben.
Und Al Qaeda? Khan selbst war zu Taliban-Zeiten mindestens einmal nach Afghanistan gereist, eine Handvoll seiner engsten Mitarbeiter, die aus ihrer Sympathie für Osama bin Laden keinen Hehl machten, pflegten damals engsten Umgang mit dem Terroristenchef und dessen Vertrauten, ließen sich zeitweilig sogar in Kabul nieder. Hatten sie mit dem Segen ihres Meisters Abdul Qadeer Khan womöglich längst hochangereichertes Uran oder wenigstens sensible Pläne für den Bau von Atombomben an die Taliban weitergegeben? Oder an Al Qaeda verscherbelt?
Am Tage nach Khans Fernseh-Geständnis tobte in Islamabad die Straße. Überall formierte sich anti-amerikanischer Widerstand. Sie warfen ihrem Präsidenten General Pervez Musharraf vor, das Ansehen ihres Nationalhelden in den Dreck zu ziehen - auf amerikanischen Druck. Die religiöse Oppositions-Koalition Muttahidi Majlis-e-Amal (MMA) organisierte Protestmärsche. Studenten skandierten: "Nieder mit den USA, nieder mit Musharraf!" Milton Bearden, ein alter CIA-Kämpe, der Ende der achtziger Jahre Stationschef des US-Geheimdienstes in Pakistan war, kam bei den Bildern "der Gedanke an ein zweites Somalia, ein nukleares Somalia!"
Noch am selben Tag empfing Musharraf, martialisch im tarnfarbenen Drillich gekleidet, Abdul Qadeer Khan, um ihm Gnade zu erweisen, unter den Augen unzähliger Pressefotografen und Kameraleute. Khan steht seitdem unter verschärftem Hausarrest in seiner Residenz, darf keine Gäste empfangen, keine Telefonate führen.
In einem Interview mit der New York Times räumte Musharraf Wochen später ein, schon bald nach seiner Machtübernahme 1999 ersten Verdacht gegen Khan geschöpft zu haben, wegen "illegaler Kontakte" und "merkwürdiger Reisen". Zu Untersuchungen habe er sich damals nicht durchringen können, weil das einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hätte. "Man konnte nicht einfach hingehen und Ermittlungen einleiten, als sei er ein gewöhnlicher Krimineller", sagte der Präsident. Er verteidigte überdies seine Entscheidung, Khan zu begnadigen: "Weil er sich zu einer übermenschlichen Figur gemacht hatte, musste ich ihm Absolution erteilen, als Zugeständnis an die Öffentlichkeit".
Es ging "nicht um Gerechtigkeit, sondern um Sicherheit", wirbt Robert L. Gallucci um Verständnis. Der langjährige Abrüstungsexperte im US-Außenministerium, der heute die CIA in Fragen der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen berät, sieht keine andere Möglichkeit, die Lage in Islamabad zu stabilisieren. "Hätte die US-Regierung Musharraf zwingen sollen, Khan härter zu bestrafen?" Der General habe nach den anti-amerikanischen Protesten vielmehr dringend Unterstützung gebraucht, "im Interesse der inneren Sicherheit des Landes und der Sicherheit der pakistanischen Kernwaffen". Milton Bearden sieht das ähnlich: "Wenn Musharraf von der Bühne verschwindet, werden Offiziere die Macht übernehmen, mit denen wir oder die Engländer keinerlei Verbindungen mehr haben, weil sie nicht auf amerikanischen oder britischen Militärakademien ausgebildet wurden." Der Verlust an Kontakten sei gleichbedeutend mit dem Verlust an Einfluss, und das könnte sich in dieser brenzligen Gemengelage in Pakistan als tödlich erweisen.
Unmittelbar nach Khans Geständnis und der Entlarvung seines klandestinen Netzwerkes hatten in allen betroffenen Ländern umfangreiche Ermittlungen begonnen, auf allen Ebenen: Strafverfolgungsbehörden prüften, ob Verfahren einzuleiten waren, die Geheimdienste trugen das Wissen für ihre Regierungen zusammen, und die Wiener UN-Atomenergiebehörde IAEA ließ ihre Inspektoren ausschwärmen, um weitere Informationen aus den Lieferländern zu beschaffen. Alle Türen zu Abdul Qadeer Khans Residenz blieben ihnen allerdings verschlossen; die pakistanische Regierung gab die Erkenntnisse seiner Vernehmungen nur zensiert weiter. CIA und IAEA erfuhren einiges über seine Geschäfte mit Tripolis, Teheran und Pjöngjang, aber kein Wort über seine Kontakte zu Al Qaeda und den Taliban.
Aber genau das war natürlich die brennendste Frage. Weder der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA noch sein britisches Pendant MI 6, die beide über beste Kontakte in Pakistan verfügen, konnten ihren Regierungen eine auch nur einigermaßen zuverlässige Antwort liefern. Schon einmal, in den Wochen nach dem 11. September 2001, hatte es große Befürchtungen in Washington gegeben, Al Qaeda könnte bereits eine Zehn-Kilo-Tonnen-Atombombe aus ehemaligen sowjetischen Beständen auf US-Boden geschmuggelt haben. Ende 2001 schienen die Informationen so konkret zu sein, dass US-Präsident George W. Bush seinen Vize Dick Cheney mit einer Hundertschaft von Regierungsbeamten aus der Hauptstadt evakuieren ließ, um im Falle eines Atomschlags durch Al Qaeda das Überleben der Exekutive zu gewährleisten. Die Regierung durfte den islamistischen Terrorismus nicht noch einmal unterschätzen.
"Pakistan ist das Land, von dem zur Zeit die größte Bedrohung für die Vereinigten Staaten ausgeht", sorgt sich Gallucci, "wir wissen, dass Khans Leute mit Al Qaeda zusammengearbeitet haben, wir wissen nicht, ob das Spaltmaterial in Pakistan in sicheren Händen, ob ihr Arsenal überhaupt unter effektiver Kontrolle ist, und wir wissen auch nicht, wie viele heimliche Sympathisanten von Al Qaeda es im pakistanischen Geheimdienst gibt". Das alles sei höchst alarmierend und beängstigend.
Das große Unbehagen bleibt, dass islamistische Terroristen Zugang zu Spaltmaterial aus Pakistan finden könnten oder schon gefunden haben. "Aus hochangereichertem Uranmetall eine krude Atombombe zu bauen und im Container nach New York zu schleusen, liegt durchaus im Rahmen ihrer technischen und logistischen Fähigkeiten", bekennt ein an der Aufarbeitung des Khan-Netzwerks beteiligter Geheimdienstler, das sei "der Stoff, aus dem momentan unsere Albträume sind".
Verschiedene Szenarien werden gegenwärtig in amerikanischen Sicherheitskreisen diskutiert. Im Mittelpunkt steht immer die Frage, ob Präsident Musharraf die innenpolitischen Verhältnisse in seinem Land weiter stabilisieren und die pro-fundamentalistischen, anti-amerikanischen Tendenzen, auch in seinem eigenen Militär, unter Kontrolle halten kann. Im Moment scheint das der Fall zu sein, aber die Lage kann sich jeden Tag dramatisch verändern.
Was aber, wenn religiöse Fanatiker im pakistanischen Militär oder im Geheimdienst hinter seinem Rücken Spaltmaterial in ihren Besitz bringen und es an Al Qaeda weiter geben? Oder wenn sich die Lage im Lande und vor allem in der Armee wieder zuspitzt? Wenn sich fundamentalistische Offiziere mit Waffengewalt Zugang zu einer fertigen Kernwaffe verschaffen, sie außer Landes schmuggeln oder vor Ort mit einer Zündung drohen, zum Beispiel um Musharraf zum Einmarsch im Kaschmir zu zwingen? Das "Undenkbare" wird längst durchdacht.
In den Was-wäre-wenn-Planspielen der US-Geheimdienste gibt es sogar noch eine schlimmere Variante. Das vierte Szenario: Präsident Musharraf würde einem Attentat zum Opfer fallen (drei Anschläge von Al Qaeda hat er nur jeweils knapp überlebt); dann könnten fundamentalistische Offiziere mit Unterstützung islamistischer Religionsführer die Macht übernehmen und eine Art Taliban-Regime in Islamabad installieren; Pakistan würde zu einem zweiten Afghanistan, mit jeder denkbaren logistischen Unterstützung eines Staatswesens für den internationalen Terrorismus. Und einem direktem Zugriff auf das komplette Atomwaffenarsenal des Landes.
Schon nach 11. September 2001 ließ Musharraf die pakistanischen Atomwaffen auf verschiedene Lager verteilen. Bis dahin wurden die Bomben offenbar ausschließlich auf dem riesigen Gelände des Central Ammunition Depots in Sargodha bei Lahore gelagert, vermutlich in Bunkeranlagen tief unter den Kirana-Bergen, wo auch einige der "kalten Tests" vorgenommen worden waren. Außerdem stellten die USA dem pakistanischen Machthaber ein Sicherheitssystem zur Verfügung, damit er den Zugang zu seinen Atomdepots besser unter Kontrolle halten kann. Aber die besten physischen Schutzmechanismen nützen nichts, wenn es undichte Stellen in der Kommandolinie gibt, sich also jemand die geheimen Codes beschaffen kann. Das bleibe die Achillesferse des pakistanischen Arsenals, fürchtet David Albright, ehemaliger UN-Waffeninspekteur im Irak, der heute mit seinem Institute for Science and International Security (ISIS) unter anderem die IAEA berät.
Das Pentagon ließ deshalb streng geheime Pläne ausarbeiten, um im äußersten Fall die pakistanischen Atombomben durch US-Kommandos sichern und das in ihnen enthaltene Uranmetall in unterkritischen Portionen "exfiltrieren" zu können, wie es im militärischen Jargon heißt; im Klartext: es zu stehlen. Mehr noch: Die mit der Aufgabe betraute Delta Force begann angeblich schon Ende Oktober 2001 auf einem abgeschiedenen US-Militärstützpunkt mit dem Training für eine solche Operation, zusammen mit Soldaten der Unit 262 aus der legendären israelischen Spezialeinheit Sayeret Mat‘kal. IAEA-Berater Albright hält sogar für denkbar, dass sich im Falle eines Falles auch indische Einheiten beteiligen würden oder selbständig tätig werden könnten.
Die Elitetruppe 1st Special Forces Operational Detachment Delta, so der offizielle Name in den Nomenklatur des Pentagon, hat die Aufgabe, Terroristen zu verfolgen und gegebenenfalls gezielt zu töten, im Hinterland des Gegners zu operieren und geheime Informationen aus Kriegs- und Krisenregionen zu beschaffen. Sie wäre ebenso prädestiniert für den Pakistan-Einsatz wie ihr israelisches Pendant, die Unit 262, zu deren Ausbildung es schon seit jeher zählt, nukleares Material im Ausland zu entwenden und Kernwaffen unbrauchbar zu machen. Obwohl naturgemäß wenig über Ausrüstung, Fähigkeiten und Befugnisse der "Rambos" nach außen dringt, ist davon auszugehen, dass die Soldaten notfalls auch ihr eigenes Leben für den Erfolg der Mission opfern würden. Das könnte im Extremfall auch heißen, die Atombomben dort zu zünden, wo man sie findet, wenn eine "Evakuierung" sich als undurchführbar erweisen sollte.
"Alles bullshit", poltert Milton Bearden, der pensionierte CIA-Agent mit besten Pakistan-Erfahrungen, der jetzt Romane und Drehbücher schreibt, "das ist Hollywood! Ich weiß wirklich nicht, was meine Kollegen dazu bringt, zu glauben, wir können die Pakistani entwaffnen!" Mission impossible, eine unerfüllbare Mission also. Der Grund für Beardens schroffes Urteil: Niemand außerhalb der pakistanischen Befehlskette, auch niemand in seinem "alten Verein in Langley", könne mit einiger Sicherheit sagen, wo sich die Bomben in Pakistan heute befinden. Und selbst wenn es Informationen über ein, zwei Lager gäbe, stiegen im selben Moment, in dem wir die in Besitz nehmen, "an anderer Stelle die Raketen mit ihrer tödlichen Fracht für Delhi und Bombay auf, Flugzeit acht bis zehn Minuten".
David Albright sieht das anders: Er wisse, dass "hochrangige Leute aus Musharrafs Truppe der CIA längst signalisiert haben, im Ernstfall bekommt ihr alle Informationen von uns, die ihr für eine Operation der Delta Force benötigt". Solange es rational denkende Generäle in der pakistanischen Armee gebe, die ihre Kronjuwelen lieber in US-Tresoren sähen als in den Händen irrationaler Offiziere oder gar Al Qaeda-Terroristen, könnte der Plan gelingen. Aber in jedem Fall, räumt auch Albright ein, würde es sich um ein "Himmelfahrtskommando" handeln.
Über solche streng geheimen Planungen sollte besser in der Öffentlichkeit gar nicht gesprochen werden, findet die Association of Former Intelligence Officers, ein Zusammenschluss ehemaliger US-Geheimdienst-Bediensteter: "Erzählt uns davon, wenn es zu Ende gebracht wurde, nicht vorher. Wir brauchen das nicht zu wissen! Der Feind liest und hört mit." Dahinter steht nicht zuletzt die Befürchtung, Schlagzeilen in der US-Presse über eine geplante Entwaffnung der pakistanischen Armee würden zwangsläufig die Position Musharrafs weiter schwächen. Das weiß auch David Albright: Eine solche Diskussionen könnte den Unmut und Amerika-Hass in der Bevölkerung schüren, weil die Menschen in Pakistan fürchten müssten, Indien erneut wehrlos ausgeliefert zu sein. Dann hätten die islamistischen Prediger mit ihren revolutionären Umsturzplänen leichtes Spiel. Ist es also besser, das vierte Szenario totzuschweigen?
Frankfurter Rundschau online 2005
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