@Somayyeh Ob wir unsere Augen verschließen oder nicht, erkennbar bleibt dennoch eine Tendenz in Teilen der muslimischen Gemeinschaften Europas: Radikalisierung, die in Gewalt übergehen kann.
Angesichts dieser Bedrohung ist es wichtig, den Unterschied zwischen einem orthodoxen Islam, der moralische Kritik an der liberalen Gesellschaft übt, und politisch motivierter Ablehnung des westlichen Systems, die auch in Gewalt übergehen kann, nicht aus den Augen zu verlieren. Die konservative Kulturkritik kann mit politischem Radikalismus einhergehen, muss es aber nicht. Es gibt viele, die eine abweisende Haltung gegenüber der als fremd und feindselig empfundenen Gesellschaft einnehmen und sich in einer Enklave zu behaupten versuchen; das ist aber etwas anderes als der Versuch, durch Einschüchterung Gesellschaften von innen heraus zu zerstören.
Das Angebot zur Integration in eine liberale Umgebung ist nichts Neutrales.
Natürlich haben manche dabei mehr zu verlieren als andere; was der eine Integration nennt, kann für den anderen Desintegration bedeuten. Je mehr Bindungen zum Aufnahmeland eingegangen werden, desto mehr wird z.B. die türkische „Gemeinschaft“ zur bloßen Fiktion. Deshalb versuchen viele Imame den Abstand ihrer Gläubigen zur Gesellschaft möglichst groß zu halten, indem sie ihnen einreden, dass diese dekadente Kultur ihnen ja doch keinerlei Chancen biete. Manche Beobachter meinen, es handele sich hier eigentlich um nichts anderes als eine islamische Version „unseres“ bibeltreuen oder traditionalistischen Christentums, also um eine Variante von religiöser Abschottung und Ablehnung des weltlichen, die wir nur allzu gut kennen. Soweit es dabei um Fragen wie Homosexualität oder das Familienleben geht, spricht einiges für diese Ansicht. Auch im Milieu strenggläubiger Katholiken begegnet man der modernen Gesellschaft mit ihren freien Umgangsformen äußerst misstrauisch.
Diese Ähnlichkeiten zwischen dem konservativen Christentum und dem orthodoxen Islam springen ins Auge, täuschen aber leicht darüber hinweg, dass auch eine ganze Reihe von Unterschieden besteht. Was man innerhalb des westlichen Christentums inzwischen als Minderheit ansehen kann, ist in den muslimischen Gemeinschaften in Europa und vor allem außerhalb Europas eine Mehrheit. Dogmatische Gläubige gibt es überall, aber im Islam herrschen die orthodoxeren Richtungen immer noch vor.
Die heutige Interpretation der religiösen Doktrin des Islam ist überwiegend konservativ geprägt.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Milieu konservativer Muslime und dem der einheimischen konservativen Christen besteht außerdem darin, dass diese nicht von der migrationsbedingten kulturellen Entwurzelung betroffen sind, selbst wenn sie der Mehrheitskultur sehr ablehnend gegenüberstehen. Es kommt noch hinzu, dass die meisten der muslimischen Migranten in einer schwachen sozialen Position sind. Auch aus diesem Grund wirkt sich die Strenggläubigkeit bei traditionalistischen Muslimen anders auf die Integrationsmöglichkeiten aus als bei den einheimischen Angehörigen jener christlichen Kirchen, die ständig nur von Hölle und Verdammnis predigen.
Manche sind der Ansicht, der Dogmatismus im Islam werde mit der Zeit von selbst an Einfluss verlieren, wie es ja auch innerhalb des Christentums geschehen ist. Oft wird argumentiert, dass wir beispielsweise die Verurteilung der Homosexualität aus unserer eigenen Vergangenheit kennen und deshalb mit Muslimen nicht ungeduldig sein dürfen, wenn sie heute ähnliche Ansichten vertreten.
Diese Argumentation hat etwas Merkwürdiges, denn der Konflikt mit der rückwärtsgewandten Religion war notwendig, damit die Gesellschaft sich weiterentwickeln konnte, und deshalb ist es auch notwendig, den religiösen Gruppen zu widersprechen, die heute im Namen des Islam Gleichberechtigung und Emanzipation ablehnen. Die Liberalisierung der Religion und ihrer Institutionen ist schließlich nicht von selbst gekommen, sondern war das Ergebnis eines öffentlich ausgetragenen Meinungsstreits. Wer die Emanzipation zu schätzen weiß, die sich in den hinter uns liegenden Jahrzehnten in vielen Bereichen vollzogen hat, müsste deshalb auch ein Interesse daran haben, einen entsprechenden Liberalisierungsprozess in den muslimischen Gemeinschaften in Gang zu bringen.
Die Ausbreitung strenggläubigen Gedankenguts ist an sich schon nicht sehr ermutigend - ohne die Befreiung der Mehrheit der Gläubigen von der beengenden Glaubensdoktrin wäre eine Öffnung der Gesellschaft niemals gelungen -, noch beunruhigender ist es aber, wenn sich derartige traditionalistische Ansichten zur radikalen Ablehnung der liberalen Demokratie verdichten. Wenn hin und wieder Berichte über Imame oder andere religiöse Führer, die Hass gegen unsere Gesellschaft predigen, die Öffentlichkeit erreichen, ist der Schreck jedes Mal groß, aber meistens auch schnell wieder vergessen.
Schlimmer aber noch ist, wenn Eltern diese starke Ablehnung der westlichen Werte und deren Kultur auf die Kinder übertragen, denn dies beginnt schon in der frühkindlichen Phase und zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, der letzten Endes Bestandteil ihrer „eigenen“ Überzeugung sein wird.
Dabei ist es ratsam, diese radikale Minderheit nicht zu unterschätzen. Es gibt etliche solcher Gruppierungen, die in Europa allmählich Fuß zu fassen versuchen. Am bekanntesten sind die Salafisten. Für sie ist Europa dar-al-kufr, ein Gebiet von Ketzern und Ungläubigen. Die eine salafistische Strömung leitet daraus ab, dass Gewaltanwendung gerechtfertigt sei, die andere nur, dass man als Gläubiger möglichst großen Abstand zu der moralisch korrupten Umwelt halten müsse. Zum Salafismus sollte man noch folgendes anmerken: „Der Salafismus ist keine kohärente, uniforme Bewegung, sondern besteht aus mehreren Strömungen, vom religiösen Puritanismus bis zum gewalttätigen politisch-religiösen Aktivismus.“
Allen radikalen Strömungen gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Islam in seinem Fortbestand bedroht sei.
Das Werk von Sayyid Qutb, in den fünfziger Jahren der wichtigste Ideengeber der fundamentalistischen Muslimbruderschaft in Ägypten, zeigt, wie der politische Islam argumentiert. Qutb geißelte die „Dekadenz des Westens“ und vor allem die Scheidung religiöser und weltlicher Dinge. Jede Trennlinie zwischen heilig und weltlich lasse vermuten, dass es im täglichen Leben mehr als nur eine höchste Autorität gebe. Doch das würde die Existenz von mehr als einem Gott implizieren. Seine Befürchtung war, dass sich liberale Denkweisen langsam in der Welt des Islam verbreiten könnten. Dieser Bedrohung sei nur mit radikalem Engagement zu begegnen. Qutb gab ohne große Umschweife zu verstehen, dass für die Ergründung der Wahrheit des Koran nicht nur religiöse Hingabe notwendig sei, sondern auch revolutionäre Aktion im Namen des Islam.
Der Schritt von der Ablehnung der liberalen Werte zur Rechtfertigung von Gewalt wird durch eine solche Weltanschauung erleichtert und deswegen gelten vor allem salafistische Moscheen und Vereine als Brutstätten des Islamismus. Dennoch ist die Radikalisierung meistens ein langwieriger Prozess, weil es Zeit braucht, alle Verbindungen zur Gesellschaft zu kappen. Ohne schwerwiegende Gründe greifen die meisten Menschen nicht zu Gewalt. Die Entfremdung sowohl von der Gesellschaft als auch vom eigenen Milieu, die Jugendliche für die Einflüsterungen des radikalen Islam anfällig macht, ist auch eine indirekte Folge der Migration; als Beispiel mal folgende fiktive Aussage (die nicht unbedingt weit hergeholt ist): „Meine Familie ist vom Glauben abgeirrt, sie praktizieren nicht. Meine Familie interessiert es nur, ob man einen Abschluss geschafft hat und ob man gut verdient. Das bedeutet, Begierden nachzujagen. Der Islam ist bei ihnen sehr schwach, sie wissen nichts.“ Ein solcher Bruch zwischen Eltern und Kindern, nicht uncharakteristisch für viele Migrationsprozesse, spielt bei der Radikalisierung eine wesentliche Rolle.
Nicht wenige der hier geborenen muslimischen Jugendlichen sind mittlerweile auf einem Weg, der sie immer weiter von der Gesellschaft fort und letztlich ins Nirgendwo führt. Für manchen verwunderlich ist die Tatsache, dass viele der sich radikalisierenden jungen Muslime in europäischen Ländern geboren und aufgewachsen sind.
Die Identifikation mit Muslimen als Opfern in Palästina, in Tschetschenien, im Irak und in Afghanistan ist einer der wichtigsten Auslöser der Radikalisierung. Und so sehe ich die Gedanken der radikalaffinen ungefähr so: „Ich mache mir auch Sorgen um die Unterdrückung von Muslimen. Ich fühle mit meinen Brüdern im Glauben. Islam ist wie ein Körper, alle Glieder spüren den Schmerz. Deshalb spüre ich den Schmerz der Muslime.“
Der Terrorismus besitzt eine eigene Logik, die wir sehen müssen, ob wir wollen oder nicht. Hinter allem steht der Gedanke, dass die anonyme Gewalt, die vom Westen in der islamischen Welt ausgeübt wird, in die Straßen der westlichen Städte gebracht werden müsse; das sei der einzige Weg, etwas zu verändern. Wenn man Morde als Vergeltungsakte interpretiert und rechtfertigt, wird es möglich, die Grenze zur Gewalt zu überschreiten.
Die Entfremdung vom gesellschaftlichen Umfeld hat also nicht eine einzige Ursache, sondern hängt sowohl mit einer weltweiten Konfrontation als auch mit migrationstypischen Problemen zusammen, genauer gesagt einem heftigen Generationskonflikt.
Muslimische Jugendliche entfernen sich von ihren Eltern, die sie aus vielerlei Gründen nicht als Vorbild empfinden können, lehnen aber auch die Gesellschaft ab, die im Islam nur eine Religion unter anderen sieht und ihn, wie sie glauben, demütigen will. An und für sich ist die Tendenz zur Bildung einer spezifischen Subkultur verständlich; man kann nur hoffen, dass sich dabei friedliche Protestformen durchsetzen werden.
Solche Muster, Vereine und Bewegungen müssen trotzdem Gelegenheit erhalten, sich zu beweisen; wenn nämlich die demokratische Mobilisierung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ergebnislos bleibt, könnte die Gewaltbereitschaft zunehmen, so wie in der Studentenbewegung in Deutschland und Italien Radikalismus irgendwann in Terrorismus überging. Die radikalen Gruppen sind oft eine Mischung aus Anführern, die der gebildeten Mittelschicht entstammen, und gescheiterten Existenzen aus der Arbeiterklasse, ein Muster, das an die meisten westeuropäischen Radikalen der siebziger und achtziger Jahre erinnert (die Rote Armee Fraktion in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien, die Action Directe in Frankreich).
Der große Unterschied besteht darin, dass der islamistische Radikalismus über eine potenzielle soziale Basis verfügt, die den Linksextremisten fehlte: die entwurzelte muslimische Bevölkerung. Die findet man in der islamischen Welt von Marokko bis Indonesien, aber auch in den Außenbezirken der europäischen Städte. Dass ein Teil der Muslime, vor allem der jungen, sich als anfällig für die totalitären Verführungen des politischen Islam erweist, ist eigentlich nicht verwunderlich. Er kann nämlich einem Leben, das in Anonymität am Rand der Gesellschaft gelebt wird, neue Bedeutung verleihen. Die verschiedenen Terrorakte, aber auch die zunehmende Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft in Städten wie Lyon, Antwerpen und Amsterdam beweisen, dass die Bedrohung real ist.
Es wäre unverzeihliche Naivität, wenn wir sie auf die leichte Schulter nehmen würden.