kuki134 schrieb am 12.09.2017:mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass in der aktuellen politischen Debatte das Thema Direkte Demokratie so gut wie gar nicht vorkommt.Der Begriff direkte Demokratie (auch unmittelbare Demokratie oder sachunmittelbare Demokratie genannt) bezeichnet sowohl ein Verfahren als auch ein politisches System, in dem die stimmberechtigte Bevölkerung („das Volk“) unmittelbar über politische Sachfragen abstimmt.
Lieber kuki134,
ich bin gebürtiger Schweizer, seit 1973 deutscher Staatsbürger. 29 Jahre meines Lebens habe ich in der Schweiz verbracht, und bin dort zur Schule gegangen. Somit verfüge ich immerhin über praktische Erfahrung mit der direkten Demokratie. Als erstes möchte ich dir sagen, dass meine Mutter erst ab 1971 erstmals abstimmen und wählen durfte. Zuvor haben die männlichen Wähler den Frauen das aktive und passive Wahlrecht in mehreren Abstimmungen verweigert. Steuern zahlen durfte sie, aber wählen erst ab 1971.
Erst am 7. Februar 1971 nahmen die männlichen Stimmbürger das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht für Frauen mit 621'109 (66%) Ja zu 323'882 (34%) Nein bei einer Stimmbeteiligung von 58% deutlich an. 15½ Kantone stimmen zu, 6½ Kantone der Zentral- und Ostschweiz (UR, SZ, OW, GL, SG, TG, AR und AI) lehnen mit teilweise immer noch massiven Nein-Mehrheiten ab. Gleichzeitig wird das Frauenstimmrecht in Kantons- und Gemeindeangelegenheiten in Fribourg (74% Ja), Schaffhausen (57% Ja), Zug (63% Ja) und Aargau (52% Ja) angenommen. Wie du siehst hat auch die direkte Demokratie erhebliche Mängel, indem im Grunde genommen vernünftige politische Forderungen, wie z.B. das Stimm- und Wahlrecht für Frauen, durch das männliche Wahlvolk verhindert wurde.
Als Wähler ist man in der Schweiz stark gefordert, weil man häufig an die Urne gerufen wird, was aber eine gewisse Wahl- und Abstimmungsmüdigkeit zur Folge hat. Dementsprechend niedrig fällt die Wahlbeteiligung jeweils aus.
Anhand eines Beispiels möchte ich dir aufzeigen, welche Konsequenzen sich bei einer Abstimmung über ein Sachthema ergeben können:
Im Jahr 2009 wurde in der Schweiz über eine Verfassungsinitiative abgestimmt, mit der die Kassen verpflichtet werden sollten, die Kosten für alternative Heilmethoden zu übernehmen. Diese Initiative wurde mit 67 % der Wahlberechtigten angenommen. Jetzt stehen die Schweizer vor dem Problem, wie sie die Wirksamkeit alternativer Heilmethoden nachweisen müssen!? Diesen Nachweis hat nämlich der damalige Bundesrat Couchepin als Forderung in den Abstimmungstext eingebracht. Couchepin war ein Gegner dieser Initiative, musste sich aber in seiner Eigenschaft als Gesundheitsminister der Mehrheit fügen. Mit seiner Forderung nach einem Wirkungsnachweis hat er jedoch die Befürworter der Initiative ausgetrickst. Die Schweiz steht jetzt vor dem Problem, dass jetzt in der Verfassung etwas steht, das sich in der Praxis – wegen fehlender Wirkungsnachweise – nicht realisieren lässt! Ich bezeichne so etwas als Schildbürgerstreich ersten Ranges!
Nachstehend ein Auszug aus der Diskussion in der Schweiz über diese Thematik:
„Einige Parlamentarierinnen und Parlamentarier sprachen sich für die Aufnahme wirksamer Methoden der Komplementärmedizin in den Leistungskatalog der Grundversicherung aus. Es bestand weitgehende Übereinstimmung darüber, dass auch komplementärmedizinische Leistungen den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu genügen haben. Sollten jedoch für die Komplementärmedizin andere Kriterien gelten oder der Nachweis der Wirksamkeit nach einem anderen Verfahren erbracht werden, müsste das Gesetz entsprechend angepasst werden.“
Das muss ich jetzt etwas näher erklären: Die sog. Volksinitiative ist eines der Volksrechte, die den Kern der direkten Demokratie bilden. Mit ihr kann eine bestimmte Anzahl von Stimmberechtigten eine Entscheidung über einen Vorschlag herbeiführen. Falls ihn eine Mehrheit der Stimmberechtigten annimmt, erhält er Rechtskraft. In einem weiteren Sinn wird auch der Inhalt eines solchen Begehrens Initiative genannt (z.B. Kriseninitiative, Alpeninitiative). Wie beim Referendum handelt es sich bei der Volksinitiative primär um ein Misstrauens- oder Oppositionsinstrument gegenüber Behörden und der politischen Mehrheit. Während aber Ersteres die Erhaltung des Status quo bezweckt, strebt Letztere eine Veränderung an. Sie kann auf der Verfassungs- oder der Gesetzesebene wirken oder andere Befugnisse gewählter Behörden betreffen.
Ich meine, dass die in Deutschland praktizierte
repräsentative Demokratie den Vorteil hat, dass so etwas Peinliches, wie 2009 in der Schweiz geschehen, nicht vorkommen kann. Hier durchläuft jede Sachfrage zunächst durch den Filter der im Parlament vertretenen Parteien. Dort stehen qualifizierte Experten aus jedem Sachgebiet zur Verfügung, die den Parlamentariern zuarbeiten und diese sachkundig beraten können. Der normale Wahlbürger verfügt doch nicht annähernd über das spezifische Sach- und Fachwissen, welches bei komplizierten Sachthemen unverzichtbar ist. Sollten sich aber auch die Politiker mal irren und falsch entscheiden, haben die Wähler bei der nächsten Wahl die Möglichkeit, dieser Partei am Wahltag die Quittung zu präsentieren. Wenn aber das Wahlvolk eine falsche Entscheidung trifft, besteht nun mal keine Möglichkeit, das Wahlvolk für eine Fehlentscheidung haftbar zu machen.
Übrigens: Im von mir eröffneten Thread "Sind Bündnis90/Die Grünen wissenschaftsfeindlich?" wird auch die in Deutschland umstrittene Homöopathie angesprochen. Die Grünen fordern nämlich dasselbe, wie es auch die Schweizer durchsetzen wollten! Die Grünen haben eben noch immer nicht kapiert, dass die Homöopathie eine Pseudowissenschaft ist.