@Narrenschiffer Ambivalent ist genau das richtige Wort, ich will das eine, toleriere aber das Gegensätzliche, weil ich nicht sehe, wie ich Meines sonst erreichen soll, beziehungsweise die Dinge, die mir in meiner Heimat am Herzen liegen, beibehalten soll. Ich will um jeden Preis verhindern, dass wir an einem Punkt angelangen, wo ich sage, dass das nicht mehr mein Land ist und der Preis ist aktuell verdammt hoch, nehmen wir nur die Diktatur, die Inflation, die Löhne. Der durchschnittliche Weißrusse verdient zwar das Doppelte des Ukrainers, aber nur ein Zehntel des Deutschen. Wenn du diesen Thread liest, wird dir nicht entgangen sein, dass ich irgendwann in Witebsk mein Köfferchen mit Scheinchen auspacken und: "Hier lebe ich jetzt", sagen will. Im Moment geht das nicht, weil ich befürchten müsste, diese Scheinchen unmittelbar abgenommen zu bekommen, ganz abgesehen davon, dass ich diese Scheinchen noch nicht habe, aber rein hypothetisch. Sollte Weißrussland, zum Glück undenkbar, aber rein hypothetisch, der EU beitreten und die gleiche Entwicklung wie das Baltikum durchmachen, was sogar noch der bessere Fall wäre (Ukraine...), würden die Dinge, die Weißrussland für mich zu Weißrussland machen, vor meinen Augen verschwinden, der Geruch und Anblick von reinster Natur (Polen muss ja unseren gemeinsamen Urwald abholzen...), die Datscha-Städte, die noblen Restaurants mit nahezu kostenlosem Essen, die sowjetische Architektur und, allen voran, die sowjetischen Menschen, welche einem Fremden stets ehrfürchtig gegenübertreten, was auf mich traurigerweise sogar schon ungewohnt wirkt, aber jedes Mal, wenn ein dahergelaufener Weißrusse meinem Blick ausweicht und gleichzeitig seine Lebensgeschichte erzählt, fühle ich mich wirklich zu Hause. Ich bin vor einigen Tagen einem Straßenmusiker begegnet, welcher Kalinka gespielt hat, da habe ich dieses Gefühl für wenige Minuten auch gehabt, ich habe alles andere vergessen, es ist einfach nicht zu beschreiben. Du gehst zur Ehrentafel, wo die "Helden Weißrusslands" und die "Helden sozialistischer Arbeit" aufgelistet sind und weißt, dass dort niemand hängt, weil er Geld hat, wie es in Deutschland ist, du siehst in deren Gesichter und kannst dir sicher sein, echte Helden Weißrusslands vor dir zu haben. In Weißrussland sind Menschen von Interesse, die wirklich etwas geleistet haben, die sich und ihr Leben ihrer Familie, ihrer Nation und deren Blühen verschrieben haben. Ich stehe dann vor der lebensgroßen Statue von Lenin, schaue auf ihn herab, stehe unschlüssig da und bitte ihn gedanklich darum, doch zu Fleisch und Blut zu werden und uns zu verraten, wie dieses Paradies aufrechtzuerhalten sei, wo doch alle unsere brüderlichen Völker daran gescheitert sind, wir sind wenigstens bis zum heutigen Tage im Spiel. Ich weiß natürlich, dass es für mich vor allem so ist, weil ich dort meine Ferien verbringe, ohne mir irgendwelche Sorgen z.B. Geld betreffend machen zu müssen, aber doch stehe ich da und fühle mich in einem dieser wenigen Momente meines Lebens wohl, da, wo ich hingehöre - und mir ist dann egal, ob ich Geld in der Tasche habe.