Anarchie
18.05.2006 um 22:14
Wer hätte gedacht, dass mein alter thread nochmal aufgegriffen wird...
Weil michgerade meine Faulheit besiegt, werde ich mal einen Text hier reinkopieren, den ich voretwa 2 Wochen verfasst habe. Er diente als Antwort auf die Behauptung, dass nicht alleMenschen im Grunde gut seien und es deshalb niemals einen Weltfrieden geben könne. Ichdenke das passt auch hier sehr gut rein, denn meine Meinung hat sich seit der Eröffnungdieses Threads entwickelt... Nun denn...
Die Herleitung unseresGesellschaftsproblems
Ich habe nie behauptet, dass alle Menschen an sich gutsind, sondern nur, dass niemand böse geboren wird bzw nichts Böses „in sich“ birgt.
In der Anfangszeit seines Lebens ist der Mensch extrem lernfähig, weil er keineErfahrung in ein vorhandenes Raster einordnen kann. Er nimmt die Informationen aus seinerUmwelt praktisch ungefiltert auf, weil er noch keine Meinungen über sie hat.Logischerweise sind diese Informationen auch schneller abgespeichert, was die besondereLernfähigkeit eines Kindes deutlich beweist. Es ist auch bekannt, dass Kinder dieVerhaltens- und Denkweisen ihres Umfeldes schnell imitieren. Das trifft natürlichspeziell für ihre Eltern zu, weil sie zu ihnen am meisten Vertrauen besitzen. DiesesNachahmungsverhalten nimmt zwar mit dem Alter ab, jedoch kann sicherlich jeder von unsfeststellen, dass man auch ab und zu Redewendungen, Meinungen usw aus seinem Umfeldunbewusst übernimmt.
Das beste Beispiel sind die sogenannten „Wolfskinder“. Das sindKinder, die vom Menschen verstoßen und isoliert bei Tieren aufwuchsen. Bei ihnen konntenachgewiesener Maßen ein tierisches Verhalten nachgewiesen werden, sprich sie liefen aufallen Vieren oder konnten nicht reden usw…
Das alles zeigt eigentlich nur, wie sehrder Mensch von seiner Umwelt geprägt wird. Der Mensch „ist“ aber nicht seine Meinung odersein Verhalten. Denn oft wird das natürliche Gewissen durch diverse Ideologien so starkunterdrückt, dass der Mensch mehr Maschine als Wesen zu sein scheint. Und doch beurteilenwir die meisten Menschen nach ihrer Meinung und ihrem verhalten, ohne aber dieHintergründe zu wissen geschweige denn sie wissen zu wollen.
Und dieser gesamteSachverhalt ist das Kernproblem einer sich nur oberflächlich ändernden Gesellschaft. ImGesamten scheint sie reifer zu werden, doch schaut man genauer hin, so herrschte ohne dasDiktat eines scheinheilig demokratisch zusammengesetzten Staates die blanke Willkür.
Der letzte Satz hat an sich keine negative Aussage. Die meisten Menschen verbindenmit den Worten „Willkür“, „Anarchie“ und „Selbstjustiz“ nichts Gutes. Sie sprechenabwertend darüber, verurteilen es und stecken es in ein Raster mit Barbarei,Ausschreitungen, Mord… um im nächsten Satz die wunderbaren Zustände von Aufgeklärtheitund Vernunft unserer heutigen Gesellschaft zu preisen. Das nenne ich blanke Ironie, dennwoher kommen diese negativen Assoziationen zu diesen Wörtern? Woher kommt die Angst voreinem Obrigkeitsverlust?
Insgeheim weis jeder um die Unmündigkeit seines Umfeldes.Ohne Gesetze und Gesetzeshüter wären wir wohl in mittelalterlichen Zuständen. Wer würdedas auch abstreiten? Diejenigen, die noch realistischer sind und schlimmere Prognosenaufstellen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die Menschen miteinander tun würden,wäre da nicht die Angst, selbst Schaden davon zu tragen.
Sich einer physischenÜberlegenheit, genannt Staat, zu unterstellen, dessen Vorschriften zu befolgen, welcheman aber nicht verinnerlicht, zeugt nicht von Reife oder gar Weisheit. Ich will ganz undgar nicht behaupten, dass beispielsweise das deutsche Grundgesetz falsch ist. Das meistedavon ist schön und richtig und sollte auch in einer anarchischen Gesellschaft nichtfehlen. Doch was eine anarchische Gesellschaft von der unsrigen unterscheidet ist dieindividuelle Freiheit. In dieser Gesellschaft heißt es nicht, ich „darf nicht“, sondernich „will nicht“. Die individuelle Freiheit in unserer Gesellschaft ist nicht sehr starkausgeprägt. Will man sich den staatlichen Diktaten (Arbeit, Wohnung, Steuer,Versicherung, Bildung, Krankenkasse…), die einen automatisch in einen „Alltag“ drängen,widersetzen, muss man auf vieles versichten und sich vor seinen Mitmenschen fürchten.Staatenlosigkeit bedeutet, man ist vogelfrei und auf das Gutdünken seines Umfeldesangewiesen. Und wer würde seinem Nachbarn noch den Rücken zu kehren wollen, wenn erpraktisch alles mit einem machen dürfte? Angenommen, man hat Glück und verscherzt es sichnicht mit jähzornigen Artgenossen oder läuft einem Irren über den Weg der einen auchgrundlos erschießen würde. Es wäre immer noch nicht viel gewonnen.
Da wäre immer nochdas Problem der Selbstversorgung. Der moderne Mensch ist auf Arbeitsteilung praktischangewiesen. Das bedeutet, er müsste sich, wollte er wenigstens seine Notwendigkeitensicherstellen, einer anderen Gemeinschaft anschließen. Aber das ist nicht ganz soeinfach, wo doch fast ausnahmslos jedes Fleckchen Erde irgendeinem staatlichen Gefilde„gehört“, was ja an sich schon pervers ist.
Es ist heutzutage also alles andere alsleicht, sich von dieser physischen Übermacht nicht diktieren zu lassen.
Die Frage istnun, was dieses Staatenprinzip so widerstandsfähig macht. Es ist aber eine Kette vonFaktoren, die dabei eine Rolle spielen und sich gegenseitig bedingen.
Ein wichtigesGlied ist die schon oft genannte Unreife der breiten Bevölkerung, die einenvorschriftslosen Umgang miteinander ohne viel Leid nicht gewährleisten kann. Bei demnächsten „Warum“ kommt der vorhandene Staat ins Spiel, der heutzutage übrigens mehrökonomische Ziele als menschliche Ziele verfolgt („Arbeiten wir, um zu leben, oder lebenwir, um zu arbeiten?). Was die Reife seiner Bevölkerung angeht, interessiert es ihn nursoweit, wie er sie auch wirtschaftlich umsetzen kann. Ein gewalttätiger Mitarbeiter istweniger wert als ein friedlicher. Dagegen wird z.B. im Schlachthaus darauf geachtet, dassdie Angestellten möglichst wenig Mitleid empfinden. Weiter muss geklärt werden, warum derStaat vorwiegend wirtschaftliche Interessen verfolgt.
Im „Westen“ ist es derKapitalismus, die so genannte „freie Marktwirtschaft“, die die Habgier, das Ego,Machtgeilheit und viele andere Zivilisationskrankheiten derart unterstützt, dass es denmeisten Wirtschaftsbossen und Staatsoberhäuptern die Sinne zu vernebeln scheint. Derständige Konkurrenzkampf untereinander lässt die Menschen ins Animalische zurückentwickeln. Was bei den Urmenschen ein gewonnener Keulenkampf war, ist heute einepositive Bilanz eines Großinvestors an der Frankfurter Börse. Die niederen menschlichenTriebe, die der menschlichen Rasse einst gegeben wurden, um das Überleben zu sichern unddie Art zu erhalten, haben sich heute im großen Stil verselbstständigt.
Es wird imAllgemeinen also nur sehr wenig unternommen, um die Menschen im Reifeprozess zuunterstützen, sie unabhängiger zu machen.
Es wird sogar oft behauptet, der Staat seisogar daran interessiert, die Menschen unreif zu halten.
Das halte ich aber fürunsinnig. Davon ausgegangen, dass es keine Hintergrundregierung gibt, die seitJahrhunderten die Strippen in der Hand hält, kann es so etwas wie „der Staat will“eigentlich gar nicht geben. Zum einen wechseln die Regierungen und Wirtschaftskonzernesich ab, zum anderen kann man den Staat nicht personifizieren. Der Staat an sich verfolgtkein Interesse, er ist nur das sich ständig erneuernde, aber vom Prinzip her gleichbleibende, Gesamtgebilde des menschlichen Zusammenlebens auf Basis von gegenseitigerAchtung, die mithilfe der physischen Überlegenheit der Masse der Gemeinschaft erzwungenwerden muss. Er kann kein Interesse verfolgen, weil er keine individuelle Intelligenzbesitzt, sondern eigentlich nur eine umgesetzte Idee menschlichen Geistes ist.
Die Menschheit befindet sich in einem Teufelskreis, der verstanden werden muss. Esist im Anbetracht dieser ganzen Faktoren sehr schwierig, sich eine friedliche Lösungvorzustellen, die einen langfristigen Wandel der Gesellschaft erreichen könnte. Vlltkönnte man damit beginnen, diesen Leitsatz mehr in das Grundgesetz zu integrieren:
„Die eigene Freiheit hört dort auf, wo die die Freiheit der anderen beginnt.“
Die Menschen werden dadurch zwar nicht auf einen Schlag „besser“, aber sie bekommenmehr Verantwortung über sich selbst, mit der sie im Laufe der Zeit umzugehen wissen. Erstwenn man die Verantwortung für sich selbst übernehmen kann und damit auch umzugehen weis,kann man langsam damit anfangen, den Menschen auch die Verantwortung für das Verhaltenmit anderen Menschen zu übertragen…