Wohin geht die Türkei unter Erdogan?
13.09.2016 um 00:54Lehrer verhaftethttp://orf.at/stories/2357420/ (Archiv-Version vom 10.09.2016)
In Diyarbakir setzte die Polizei gestern Wasserwerfer ein, um eine Kundgebung von mehreren hundert Lehrern zu beenden, die gegen ihre Suspendierung protestierten. Mehrere Dutzend Menschen seien verhaftet worden, hieß es in Gewerkschaftskreisen. Tags zuvor waren über 11.000 Lehrer in der kurdischen Region im Südosten der Türkei vom Unterricht ausgeschlossen worden. Die Behörden werfen ihnen vor, mit militanten Organisationen zusammenzuarbeiten. Die Suspendierungen sind Teil der Kampagne gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die seit 30 Jahren gegen die Regierung in Ankara kämpft.
HDP-Vizechef festgenommen
Verhaftet wurde auch der Vizevorsitzende der prokurdischen HDP, Alp Altinörs. Sein Haus in Ankara sei in der Nacht auf gestern durchsucht geworden, teilte die HDP mit. Man protestiere und verurteile diesen deutlichen Akt der Aggression gegen die HDP und die Kräfte der demokratischen Opposition.
Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim hat vor kurzem die Überprüfung und mögliche Entlassung von 14 000 weiteren LehrerInnen im Südosten der Türkei angekündigt. Ihnen wird Unterstützung der PKK vorgeworfen. Nach Angaben von Kamuran Karaca (kara-dscha) wären das mehr als 10 % der Lehrkräfte im kurdisch geprägten Südosten. Zum Schuljahresbeginn am 19. September könnten 450 00 Kinder ohne LehrerIn bleiben.https://rdl.de/beitrag/t-rkei-lehrerinnen-waren-f-r-den-putsch-verantwortlich
Die türkische Regierung setzt nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu in 28 Gemeinden die gewählten kurdischen Bürgermeister ab. Ihnen wird vorgeworfen, Verbindungen zu kurdischen Rebellen zu haben. Der Schritt werde innerhalb von 15 Tagen vollzogen, sagte Soylu am Freitag. Die Regierung werde die Gemeinden künftig selbst verwalten.http://www.nzz.ch/international/europa/nach-putschversuch-tuerkei-setzt-28-kurdische-buergermeister-ab-ld.115947
Tags zuvor hatte das Bildungsministerium 11285 Mitarbeiter vom Dienst suspendiert, darunter auch Lehrer. Sie werden ebenfalls verdächtigt, Beziehungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu unterhalten.
Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli hatte die Türkei den Ausnahmezustand verhängt und Zehntausende Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Sie sollen Verbindungen zu dem im amerikanischen Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen haben, den Ankara als Drahtzieher des Putschversuchs sieht.
Dieses Regime sollte auf seinem Eroberungszug aufgehalten werden.
mir tut die Türkei leid, alle Menschen, vom Kellner zum Wissenschaftler bis Künstler, Mechaniker oder Schriftsteller, Denkenden, sich frei fühlen wollenden Menschen
Genug ist genug. Nachdem am 10. September zwei weitere führende türkische Autoren aufgrund von absurd anmutenden Vorwürfen festgenommen worden waren, unterzeichneten binnen Tagesfrist über fünfzig international bekannte Literaturschaffende und Intellektuelle einen offenen Brief an die Regierung. Sie erwähnen in dem Schreiben auch seit längerem inhaftierte Berufskollegen, darunter die Schriftstellerin Asli Erdogan; besonders aber reagieren sie auf die eingangs erwähnte Verhaftung des Romanciers und Journalisten Ahmet Altan und seines Bruders, des Wirtschaftswissenschafters, Autors und Kolumnisten Mehmet Altan. Die beiden wurden am frühen Samstagmorgen in Haft genommen, weil sie – so der Anklagepunkt – im Rahmen einer Fernsehsendung unmittelbar vor dem Putschversuch «unterschwellige Botschaften» ausgesandt haben sollen, um Sympathien für die Umstürzler einzuwerben.http://www.nzz.ch/feuilleton/aktuell/offener-brief-an-praesident-erdogan-die-grossen-sprechen-ld.116245
Die Autoren des Schreibens sind klug genug, sich deutlich von den Putschisten zu distanzieren und der Regierung ein hartes Durchgreifen in solcher Lage zuzubilligen. Es sei verständlich, schreiben sie, dass man einen zeitlich begrenzten Notstand ausgerufen habe: «Aber der gescheiterte Coup sollte nicht zum Vorwand für eine Hexenjagd im Stil McCarthys werden; ebenso wenig darf der Notstand unter weitgehender Missachtung der Grundrechte, der Beweisregeln oder gar des gesunden Menschenverstands durchgesetzt werden.»
Die Liste der Unterzeichnenden liest sich wie ein Palmarès des Geisteslebens. Die Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und J. M. Coetzee sind darunter, die enigmatische Erfolgsautorin Elena Ferrante, der couragierte Enthüllungsjournalist Roberto Saviano und akademische Schwergewichte wie Wolf Lepenies und Mark Lilla; profilierte literarische Namen wie Alberto Manguel, Rick Moody, Breyten Breytenbach, A. L. Kennedy und John Berger und viele mehr. Man wünschte bloss, dass die Türkei sich die Ehre eines solchen Schreibens auf andere Art verdient hätte.