Kangaroo schrieb:Als Kemalist hoffe ich dass bei der Neuwahl das Ergebnis noch deutlicher ausfällt und die AKP einen ordentlichen Denkzettel bekommt.
Unter normalen und gerechten Bedingungen sähe die Chance sehr gut aus für den Kandidaten der Opposition. Aber an der Stelle von Erdogan würde ich in der aktuellen Situation keine Neuwahlen anstreben, wenn ich mir des Sieges nicht sicher wäre. Ich glaube nicht, dass man den Ausgang der nächsten Wahlen abschätzen kann.
Es gibt in der Türkei nichts mehr, worauf man seine Thesen stützen könnte. Das Land wird immer unberechenbarer.
In der letzten Zeit habe ich einige türkische und unabhängige Journalisten verfolgt, alle waren sich einig, dass keine Neuwahlen stattfinden würden. Sie alle lagen daneben. Erdogan hatte in den letzten Tagen groß rumgetönt, den Wahlausgang angezweifelt. Viele haben das als leere Drohung abgetan und dachten, dass er bis zu den nächsten Wahlen in 4 Jahren die Legitimität des Wahlausganges anzweifeln würde und so auf Stimmenjagd gehen würde, aber nun haben wir den Salat.
Auf der anderen Seite hat der Erdogan viele strategische Fehler begangen in letzter Zeit, die schließlich mit zu dem Wahlausgang beigetragen haben. Vielleicht ist das wieder solch ein Fehler. Möglicherweise haben ihn finanzielle Interessen dazu bewogen. Istanbul ist in der Hinsicht nicht zu unterschätzen.
In der aktuellen Situation hat er aber keine andere Option als die Wahl zu gewinnen. Wenn er die nächste Wahl in Istanbul wieder verliert, würde das den Abwärtstrend der Akp beschleunigen. Das weiß er selber sicherlich auch und das macht die Situation umso gefährlicher.
Mmn. hat er sich einem großen Risiko ausgesetzt, denn wenn die Wahlen fair ablaufen und die Opposition die Urne nicht meidet stehen die Chancen ziemlich schlecht für Erdogan.
Evtl. spekuliert er auch auf die Urlaubssaison, in der erfahrungsgemäß viele Wähler der Opposition wegfahren und nicht an der Wahl teilnehmen. Denn es ist die Rede davon, dass die Wahlen in ca. 2 Monaten stattfinden sollen.
Ausserdem baut er durch die Ausrufung von Neuwahlen einen möglichen Rivalen auf für die nächste Präsidentschaftswahl und das mit eigenen Händen. Die Opferrolle kann einem Politiker viele Wählerstimmen einbringen. Eigentlich sollte das Erdogan ziemlich genau wissen.
Hinzu kommt noch die wirtschaftliche Lage der Türkei. All die Beschwerden und das Anzweifeln des Wahlergebnisses durch die Akp hat der türkischen Währung geschadet. Bei den ausländischen Investoren hat diese Haltung sicherlich kein Vertrauen hervorgerufen.
Neue Wahlen bedeuten auch wieder zusätzliche Belastungen für die Staatskasse.
Wie gesagt, dass Risiko ist wirklich sehr sehr hoch für ihn, deshalb will ich nicht so recht glauben, dass er den Ausgang der nächsten Wahlen dem Zufall überlässt. Man hat schon einmal gesehen, dass ungültige Wählerstimmen in Höhe von ca. 2,5-3 Millionen für gültig erklärt wurden.
Jeder weiß, dass die Wahlkommission auf Geheiß von Erdogan gehandelt hat. Das ist kein Geheimnis.
Im vergangenen Monat hat die Akp mehrfach versucht illegale Machenschaften zu beweisen, keine dieser Beweise waren wirklich überzeugend. Es wurden viele Gründe vorgebracht, keiner der Gründe hatte wirklich Substanz. Schlussendlich haben sie sich auf einige Wahlhelfer eingeschossen, die als Terroristen abgestempelt wurden (welch Wunder) und Wahlbetrug begangen haben sollen. Das Problem an der Sache: Diese Wahlhelfer oder "Urnenaufseher" wurden von staatlichen Institutionen/Wahlkommissionen abgesegnet.
Auch die Neuauszählungen haben nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Es wurden so einige Zahlen aus den Bezirken berichtigt, dabei schmolz der knappe Vorsprung der Opposition nur um ca. 14.000 Stimmen. Wenn man sich vor Augen führt, dass in Istanbul ca. 10 Millionen Menschen wählen dürfen von denen ca. 8 Mio. an den Wahlen teilgenommen haben, ist das eigentlich keine große Unregelmäßigkeit.
Überhaupt ist mir nicht bewusst, wie man durch Wahlmanipulation solch ein knappes Ergebnis herbeiführen könnte. Das bedarf einer viel größeren Organisation und die "Urnenaufseher" der anderen Parteien müssten entweder geschlafen oder ein Auge zugedrückt haben. Schließlich sollte von jeder Partei mindestens ein Aufseher bei der Auszählung der Urnen dabei sein.