Noch ein Bericht über die Situation der Menschen in Slawjansk. Das kommt hier viel zu wenig zur sprache.
Die humanitäre Situation in der Stadt hat sich rapide verschlechtert nach dem vergangenen Wochenende, als die ukrainischen Streitkräfte zur Amtseinführung und dann auf Pfingsten für die Slawjanks-Bewohner eine echte blutige Dusche eingerichtet haben. Granaten, Bomben, Geschosse, Raketen fielen auf die arme Stadt praktische ununterbrochen.
— Es gibt Informationen über mindestens 12 tote Einwohner, — teilte uns beim improvisierten Briefing im Keller unseres Hotels der Bürgermeister Wjatscheslav Ponomarev. Er kam zu Besuch, und da begannen die Ukrainer den Beschuss mit «Grads» [Mehrfachraketenwerfer]. So musste er bleiben. — Die Verwundete zählen wir schon in Hunderten.
Zu uns in den Keller steigen Frauen aus dem Nachbarshaus:
«Schon wieder fangen die mit ihrem Babach, Scheisser, — jammern sie gewohnt. — Laßt uns doch mal ausschlafen. Die ukrainische Armee beschützt uns so vor Terroristen, vielen Dank dafür».
In 30 Minuten fährt Ponomarev mit seinen Bodyguards weg, und wir gehen auf unsere Zimmer, um uns in halber Stunde wieder im Keller zu treffen. Und am Morgen treffen wir uns wieder um sich dann zu Fuss, denn fahren kann man nicht mehr, die Spuren der nächtlichen Bombardierungen anzusehen. Die Geschosse und Raketen explodierten in der Nachbarsstraße.
Die Leninstraße ist bis zum Knie in den Glassplittern. Die Vitrine unseres Lieblingsfriseurs ist kaputt, die Apotheke ist beschädigt. Die Leitungen sind gerissen, Haufen abgeschlagenen Äste und Gruppen schweigender Menschen, die versuchen das Geschehene zu erfassen. Das ist schwer, wenn man das Puzzle zusammensetzt: kein Licht, kein Wasser, kein Geld, Arbeit, Rente. Dafür gibt es der Tod, der jede Sekunde vom Himmel kommen kann. Es dauert ungefähr 10 Sekunden, bis die «Grad»-Rakete kommt. Nach den Löchern in den Wänden zu urteilen, wird aus unterschiedlichen Richtungen geschossen. Offensichtlich gibt es mehrere Batterien. Igor Strelkov hat gestern den Journalisten der «KP» erzählt, dass die Granatenwerfer-Hinterhalt der Volkswehr eine unvollständige Batterie der «Grads» an der Kreuzung zum Krasnyj Liman erledigt. Das hat die Stadt nicht gerettet.
Wir klopfen an die erst beste Wohnungstür. Ein älterer Mann öffnet, Valerij Schuba, erzählt uns:
— Es gibt kein Netz, ich habe ein altes Telefongerät gekauft, mit einer Drehscheibe. Wir haben ja nur Handys benutzt. Dieses habe ich ganz vergessen. Ich habe es eingeschaltet. Und da klingelte es gerade, und meine Frau ging in die Küche. Der Abend war so… Es war still… Und plötzlich eine Explosion, ich wurde mit der Druckwelle zurückgeworfen. Ich bin nicht mal hingegangen, es war so schon alles klar — ein direkter Treffer, was gibt es noch zu besprechen… Meine Schwiegermutter war im Nachbarszimmer, sie ist 90 Jahre alt, war mit Backsteinen zugeschüttet. Ich habe sie rausgegraben, dann später, gegen Morgen, dann meine Frau…
Wir werfen einen Blick in das Zimmer. Im Sessel sitzt eine alte Oma, mit Blut beschmiert und wiederholt:
— Wo ist Tanja? Wo ist Tanja?
Tanja liegt zu ihren Füssen, bedeckt mit einem Betttuch…
Eine weinende Frau im Hof eines Hauses sagt, dass sie nicht weiß, was sie weiter tun soll. Einige Jahre lang hat die Familie das ganze Geld in die Renovierung der Wohnung gesteckt und alles… Es ist nichts mehr da. Wir fragen:
— Können sie aus Slawjansk wegfahren?
Ihr Sohn kommt dazu:
— Wir könnten wegfahren, aber wir haben kein Geld. Wir haben nichts. Alle Ersparnisse waren hier — jetzt haben wir nicht mal einen Löffel, nicht mal ein Handtuch.
Wir steigen eine Treppe — zuerst riecht man den Rauch, dann kommen Splitter, dann sieht man keine Stufen mehr, alles ist bedeckt mit einer dicken Schicht des zermahlenen Backsteins. Es gibt keine Wohunung — nur Haufen Steine, hier und da sieht man zerquetschte Sachen herausblicken. In der Nachbarswohnung steht auf dem Fussboden eine große Schüssel mit blutigem Wasser. Im Kühlschrank sind zehn Eier und einfaches Essen. Es riecht stark nach Gas.
Auf der Treppe begegnen wir einer Frau. Irina sagt, dass sie durch ein Wunder gerettet wurde. Der Mann sagte zu ihr — «wir werden in Slawjansk» sterben, und sie war einverstanden. Zu Pfingsten besuchten sie die Verwandtschaft, heute zurückgekehrt — die Wohnung existiert nicht mehr.
Das Bett ist mit einer schweren Platte eingedrückt, und die Wohnung existiert nicht mehr. Sie können schauen, es gibt nichts mehr sich zu schämen.
In einem der Zimmer ist eine risiege Bibliothek, eine Wand ist voll mit Bücher. Auf dem Fussboden liegt eine ausgebrannte Ikone. Der Rahmen mit «Weintraubenmuster," wie im Süden üblich, ist ganz, und das Bild ist durch die Höllenflamme ausgebrannt. An der Zimmerwand hängen viele Ikonen — durch die Hitze ist das Gesicht der Gottesmutter verkrümmt, gefaltet und es scheint, als würde sie gleich weinen.
In der Wohnung gibt es keine Badewanne mehr, auf dem staubigen Steinehaufen schlängelt sich der glänzende Duschschlauch. Vom Balkon riecht es nach dem verbrannten Isolierungsstoff und es ist kalt, trotz der erschlagenden Sommerhitze.
Im Erdgeschoss des zerstörten Hauses ist ein Wohnanmeldeamt, vor der Tür stehen Dutzend Frauen. Sie führen leise Gespräche. Wir fragen, ob sie aus Slawjansk wegfahren, wenn ein Korridor eröffnet würde? Nein, sie würden nicht wegfahren, jede von ihnen hat den Pass gerade beim Anmeldeamt abgegeben und das Amt ist zu und es ist unbekannt, wann es wieder auf hat. Und überhaupt hat hier kaum jemand von den von Pjetr Poroschenko zur Verfügung gestellten humanitären Korridoren gehört. Bis jetzt bringen die bescheidenen humanitären Lieferungen die Einheimischen selbst, durch die Felder und Wälder, auf eigenes Risiko. Aber die Stadt lebt nicht unter den Bedingungen der echten humanitären Katastrophe und Blockade. Slawjanks hat auch den wahnsinnigen Informationshunger — kaum jemand versteht, was um ihn herum passiert. Es gibt doch kein Licht, also gibt es kein Internet und kein Fernsehen. Es fehlt am Elementartesten, und gleichzeitig am Wichtigsten: Brot, Wasser, Medikamente. Und Ärzte.
— Die Situation ist sehr schwer, — sagt der Leiter der Chirurgie im Slawjansk Krankenhaus Arkadij Gluschtschenko. — Es gibt kein Wasser, aber es wird uns gebracht, danke. Das Licht gibt es mit Unterbrechungen. Uns fehlt es an Personal. Viele sind weggefahren, man kann sie verstehen. Es hat sich eine Sammelmannschaft vom ganzen Krankenhaus gesammelt. Es ist sehr schwer. Besonders auf das «blutige Pfingsten», wie wir es schon genannt haben. Es war so ein Schlachthof, unvorstellbar. Das Stadtzentrum wurde beschossen, aber es wurden Menschen von ganz Slawjansk angeliefert. Gearbeitet haben aber nur 6–7 Ärzte, dazu auch noch aus verschiedenen Fachgebieten. Letzte zwei Tage sind aus der Sicht der Chirurgie ruhig. Die Therapeute haben geholfen, der Stellvertretende des Chefarztes. Seit dem Freitag wurden 33 Menschen eingewiesen. Das sind 5–7% aller Verletzten. Die meisten waren mit den Splitterwunden, wir haben sie bearbeitet und nach Hause entlassen. War nicht mal genug Zeit die Namen aufzuschreiben.
Die Information über die fehlenden Ärzte für den Notdienst wurde uns auch von dem Kommandeur Igor Strelkov bestätigt, der sich an die Ärzte wendete mit dem Aufruf als Freiwilliger nach Slawjansk zu kommen. Hier hat kaum jemand Zweifel, dass es weiter Verwundete geben wird.
Manche versuchen auf eigenes Risiko wegzufahren, über «Partisanenpfade». Eine Frau mit zwei Mädchen rennt an uns vorbei. Alle haben Tüten in der Hand. Eine Kleine, ca sechsjährige ist erschöpft und die Mutter bittet sie:
— Ksjuscha, lauf schneller, Ksjuscha, lauf zu dem Bus, wir kommen zu spät.
Jetzt kann man sich in Slawjansk nur auf den Flüchtlingsbus verspäten.
Andere fahren nicht.
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