http://www.spiegel.de/politik/ausland/aufstand-in-der-tuerkei-erdogans-macht-erodiert-nach-occupygezi-a-903416.htmlErwacht in der Türkei eine neue Bürgergesellschaft? Zehntausende protestieren gegen Erdogan und trotzen der Polizeigewalt. Die Revolte zeigt: Der Premier ist nicht mehr unangefochten. Gefahr droht ihm aus mehreren Richtungen.
Berlin - Im Hintergrund sind die Dächer Istanbuls zu sehen, daneben das Konterfei Recep Tayyip Erdogans, überlebensgroß. Der mächtige Premier wacht über die Stadt, das ist die Botschaft des Bildes. Und er wacht über die Arbeit seiner Parteifunktionäre: Das Bild hängt in einem Konferenzraum in der Zentrale der AKP Istanbuls.
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Doch jetzt gehen Bilder aus der Türkei um die Welt, die eine andere Botschaft senden. Jetzt sieht es so aus, als könnte dem mächtigsten Mann, den das Land seit Staatsgründer Atatürk gesehen hat, die Kontrolle entgleiten.
Noch Mitte Mai war Erdogan am Brooking Institute in Washington aufgetreten, hatte geprahlt, seine Regierung plane für 29 Milliarden US-Dollar einen dritten Flughafen in Istanbul, den mutmaßlich größten der Welt. "Die Türkei spricht heute nicht über die Welt", sagte er. "Die Welt spricht über die Türkei."
Zwei Wochen später bestätigt sich diese Einschätzung, doch anders, als Erdogan es gerne hätte. Die Welt spricht über die Türkei und ihren Premier als jemanden, der seine Bürger von Polizisten niederknüppeln lässt, als Machthaber, dessen autoritären Regierungsstil viele Türken nicht mehr hinnehmen wollen.
Erdogan galt lange als unantastbar, bis zu den Aufständen war er der beliebteste Politiker der Türkei. Er trat einst an, das Land zu reformieren, demokratischer sollte die Türkei werden, ziviler - und, ja, streitlustiger. Er hat die Macht der alten Elite gebrochen, die Wirtschaft in Schwung gebracht, den Konflikt mit den Kurden beruhigt.
Doch eines ist auf der Strecke geblieben: die Demokratie. Manche Politiker lässt Erfolg souveräner werden. Bei Erdogan hat der Erfolg jedoch dazu geführt, dass er machtgierig wurde, dünnhäutig, unempfänglich für Kritik. Er regiert genauso autoritär, wie er es seinen Vorgängern vorgeworfen hat. Jetzt droht Gefahr aus mehreren Richtungen:
Die größte Gefahr für Erdogan ist seine Selbstherrlichkeit. Seine Erwiderung auf die Proteste zeigt, wie weit sich der Premier von der Wirklichkeit entfernt hat. Im ganzen Land gehen Hunderttausende Menschen gegen seine Regierung auf die Straße. Und anstatt zu deeskalieren, provoziert er sie weiter. Zuletzt tönte er am Montagmorgen, er könne die 50 Prozent Türken, die ihn gewählt haben, nur noch schwer in ihren Häusern halten. Kritiker sehen das als Androhung eines Bürgerkrieges.
Er lasse sich seine Politik "nicht von einer Hand voll Plünderer" diktieren, wetterte er. Die Proteste nannte Erdogan "ideologisch" und "von der Opposition manipuliert"; Twitter, das viele Demonstranten nutzen, um Botschaften und Bilder der Revolte zu verbreiten, sei die "schlimmste Bedrohung der Gesellschaft".
Erdogans Worte erinnern an die der arabischen Diktatoren, die nicht begreifen wollten, dass ihnen das Volk die Gefolgschaft verweigerte. "Anstatt zur Ruhe aufzurufen und Gräben zuzuschütten, hält er eine zerstörerische Rede", twitterte die al-Dschasira-Journalistin Gizem Yarbil fassungslos.
Erdogan unterschätzt die Wut der Kemalisten. Neu befeuert hat er sie erst vor wenigen Tagen mit einer Äußerung über ein Gesetz zur Beschränkung von Alkohol in der Öffentlichkeit. Bei einer Parteisitzung zieh Erdogan seine Mitbürger des Alkoholismus: Er sprach von Polizisten, die immer wieder leere Flaschen unter Autositzen finden, von Ehemännern, die ihre Frauen verprügelten, von Vätern, die mit einem Bier in der Hand ein schlechtes Vorbild seien.
Vor allem aber fragte er: Wollt ihr dem Gesetz zweier Säufer folgen oder dem Gesetz Gottes? Seitdem spekulieren die Türken, wen ihr Premier gemeint hat. Für viele ist klar: Er spielte auf Staatsgründer Atatürk und dessen Ministerpräsidenten Inönü an - beide waren im Amt, als 1926 das Alkoholverbot fiel. Viele Türken verstehen das als Angriff auf ihren Nationalheiligen.
Erdogan droht den Rückhalt in den Metropolen und wirtschaftlichen Zentren zu verlieren, darunter Istanbul, Antalya und Izmir: Längst demonstrieren in mehr als 40 Städten nicht nur einige Studenten und Intellektuelle. Es sieht so aus, als erwache die türkische Bürgergesellschaft, die lange nur zusah, wie Erdogan regierte. Zu den Protesten strömen Familien mit Kindern, Frauen mit Kopftüchern, Anzugträger aus den Bankenvierteln, Hipster in Turnschuhen, Apotheker und Teestubenbetreiber.
Bislang versucht keine Oppositonspartei, die Proteste zu vereinnahmen - keine Flaggen, keine Slogans, keine Auftritte prominenter Funktionäre. Kemalisten und Kommunisten demonstrieren mit Liberalen und Säkularen. Erdogan dürfte es nicht gelingen, sie alle als "Marodeure" und "Extremisten" darzustellen.
Eines ist aus Istanbul besonders oft zu hören: Soldaten hätten Gasmasken verteilt, und zwar nicht an die Polizisten - sondern an die Demonstranten. Das Militär unterstützt die Revolte, das ist die Botschaft. Traditionell verstehen sich die Generäle als Hüter des kemalistischen Erbes und der laizistischen Verfassung, als Vertreter einer säkularen Türkei. Drei Mal haben sie geputscht, 1960, 1971 und 1980.
Nur hat Erdogan die Macht des Militärs beschnitten, er hat Offiziere austauschen lassen und einige als mutmaßliche Verschwörer ins Gefängnis gebracht. Es ist schwer zu beurteilen, wie die Soldaten sich verhalten werden: Bleiben sie in den Kasernen? Werden sie eingreifen? Erdogan kann sich zumindest nicht sicher sein, dass sie stillhalten.
Auch innerhalb der AKP ist Erdogan nicht mehr unumstritten, einige Parteifreunde verfolgen eigene Interessen. Vor allem Staatspräsident Abdullah Gül distanziert sich vorsichtig. Erdogan wetterte, die Demonstranten sollen ihre Meinung gefälligst bei Wahlen kundtun. Gül sagte kurz darauf: "Demokratie heißt nicht nur, seine Stimme abzugeben."
Das Parteiengesetz verbietet Erdogan, bei der nächsten Wahl erneut anzutreten. Er setzt deshalb nun auf das Modell Putin: 2014 will er den Posten des Staatspräsidenten übernehmen, diesen aber zuvor mit erheblich mehr Machtbefugnissen ausstatten. Nicht alle in der AKP unterstützen ihn darin. Bereits jetzt gibt es Mutmaßungen über einen parteiinternen Machtkampf.
Am Morgen nach dem heftigsten Protestwochenende, das die Türkei seit langem erlebt hat, meldete sich Erdogan erneut zu Wort. Er verdächtigte "ausländische Kräfte" hinter den Demonstrationen, der türkische Geheimdienst gehe entsprechenden Hinweisen nach. "Es ist unmöglich, ihre Namen zu nennen. Aber wir führen Gespräche mit ihren Anführern." Die Strategie ist offensichtlich: Der Premier versucht, die Proteste als Angriff auf die Türkei darzustellen.
Die Welt schaut auf die Türkei, USA und EU rufen zur Umsicht auf, die Bürgerrechte müssten gewahrt bleiben. Erdogan jedoch will das jetzt hinter sich lassen. Er macht sich auf den Weg zu einer viertägigen Reise durch Nordafrika, erst nach Marokko, später soll es auch nach Tunesien gehen, wo der Arabische Frühling seinen Anfang nahm: Eine Zivilgesellschaft erhob sich gegen ihre autoritäre Regierung. Das dürfte Erdogan bekannt vorkommen.
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Das mit Abstand coolste ist:
Am Morgen nach dem heftigsten Protestwochenende, das die Türkei seit langem erlebt hat, meldete sich Erdogan erneut zu Wort. Er verdächtigte "ausländische Kräfte" hinter den Demonstrationen, der türkische Geheimdienst gehe entsprechenden Hinweisen nach. "Es ist unmöglich, ihre Namen zu nennen.Ich bekomm ja das Grinsen nichtmehr aus dem Gesicht...
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