21.09.12
Andy, mal ganz anders
Das Metropolitan Museum in New York sucht den Pop-Art-Künstler jenseits der Klischees Von Hannes SteinDie übergroße Campbell-Suppendose und Marilyn Monroe in schreienden Farben - das hat man in Reproduktion tausendfach gesehen, es ist beinahe so wie bei van Goghs verfluchten Sonnenblumen: Eigentlich sollte das Zeug längst seine Aura verloren haben.
Trotzdem ist man auf seltsame Art ergriffen, wenn man dieser Tage durch das Metropolitan Museum schlendert, das gerade mit großem Trara eine Ausstellung über Andy Warhol präsentiert. "Sechzig Künstler, fünfzig Jahre" lautet der Untertitel der Schau. Es handelt sich nicht um eine Retrospektive, die Kuratoren wollen eine These beweisen. Diese: Es gibt keine Kunst mehr außerhalb von Andy Warhol. Nur ein Drittel der hier ausgestellten Werke stammt darum vom Meister selbst. Der Rest verteilt sich auf große Namen wie Ai Weiwei, Richard Avedon, John Baldessari oder Damien Hirst.
Die Ausstellung ist nach Themen gruppiert. Ein Raum etwa widmet sich unter der Überschrift "Celebrity and Power" der Porträtkunst - hier soll eindrucksvoll vor Augen geführt werden, dass die schrillen Bilder, die Warhol von den Gefeierten und Mächtigen seiner Zeit angefertigt hat, dieser Kunstform wieder auf die Beine geholfen haben, als sie längst darniederlag.
In der Mitte dieses Raumes hockt ein jugendlicher Michael Jackson, ganz in Weiß und Gold gehalten, und liebkost ein Äffchen; der Wille zum Kitsch, mit dem Jeff Koons dieses Ensemble gestaltet hat, kennt wenig Erbarmen. Ein weiterer Teil der Ausstellung unter der Überschrift "Die täglichen Nachrichten - von der Banalität zur Katastrophe" beginnt mit dem marzipanrosa Schweinchen, das Jeff Koons von zwei Engelchen und einem niedlichen Buben hereinführen lässt, um die Ära des Platten, Blöden und Alltäglichen einzuläuten.
Dann steht man betroffen vor dem Haufen knallbunt eingewickelten Zuckernaschwerks (genau 175 Pfund), mit dem der kubanisch-amerikanische Künstler Félix González-Torres seines Freundes gedachte, nachdem der an Aids gestorben war (175 Pfund war das Idealgewicht des toten Freundes).
Am Ende bewundert der Ausstellungsbesucher jenen elektrischen Stuhl, den Andy Warhol gleich dreifach auf die Leinwand geworfen hat. "Silence" (Schweigen) steht auf einem Schild über dem Hinrichtungsinstrument, beinahe übersieht man es. Der größere Teil der Leinwand ist kunstvoll mit grauer Farbe zugeschmiert. Ein Geheimnis, das im Metropolitan Museum gelüftet wird, ist dieses: Warhol konnte wirklich malen. Er hatte einen geradezu altmeisterlichen Sinn für Proportionen.
Im nicht jugendfreien Teil der Ausstellung geht es um Sex, ausschließlich in der schwulen und lesbischen Variante. Hier dürfen wir den doppelten Elvis Presley bewundern, den Warhol mit elegant-gewagt-gedrehtem Hüftschwung vor silbernem Hintergrund abgebildet hat, wie er mit seiner Waffe geradewegs auf den Betrachter zielt. Das schönste Objekt ist ein bleicher Männerhintern aus Wachs, schön naturalistisch mit schwarzen Härchen versehen, über dessen Gesäßbacken Notenlinien mit Noten laufen. Was will uns der Künstler damit sagen? Dass dieser Podex kein Gedicht ist, sondern eine Symphonie. Bekanntermaßen war Andy Warhol kein Kapitalismuskritiker. Wenn er Suppendosen der Firma Campbell in Übergröße malte, dann nicht deswegen, weil er vor den Exzessen der Nahrungsmittelindustrie warnen wollte, sondern weil er Suppendosen der Firma Campbell gut fand. Ihm gefiel, dass in jeder Coca-Cola-Flasche dasselbe drin ist, ganz gleich, ob ein Präsident, ein Multimilliardär oder ein Obdachloser sie leer trinkt.
Gleichzeitig war er fasziniert von der dunklen Seite des Lebens: von Gewalt, Zerstörung und Tod. Mit derselben Bildsprache, mit der er Konsumartikel oder Marilyn Monroes Kussmund in Kunst verwandelte, verewigte er auch den Massenmörder Mao oder eben den elektrischen Stuhl.
Bei manchen von Andy Warhols Nachfolgern kann beobachten, dass sie sich in zwei politische Richtungen teilen. So, wie es nach Hegels Tod eine linkshegelianische und eine rechtshegelianische Schule gab, gibt es also auch Links-Warholianer und Rechts-Warholianer. Zu den Linken gehört etwa der Deutsche Hans Haacke, der Margaret Thatcher als kalte, geistlose Fürstin der Finsternis darstellte und eine monumentale Schachtel Marlboro auf den Boden legt, um den Philip-Morris-Konzern zu kritisieren. Ein Rechts-Warholianer ist der Japaner Takashi Murakami, der keine Grenze mehr zwischen Kunst und Kommerz ziehen will und Handtaschen für Louis Vuitton entworfen hat. Im letzten Teil der Schau entwirft er eine Tapete aus Mangafiguren, die man sich in jedem Kinderzimmer der Welt vorstellen könnte: bunt, fröhlich und ohne Sinn. Was sofort auffällt: Sowohl die Linken als auch die Rechten sind langweiliger (und dümmer), als es der Meister war. Sobald die Ambivalenz fehlt, ist der Witz weg.
Im allerletzten Raum der Ausstellung stehen wir plötzlich in einer Idylle: Auf den Wänden tummeln sich Kühe auf einer Tapete, über uns schweben silberne Wolken - viereckige Plastikballons, die mit Helium gefüllt wurden. Ein Ventilator surrt unter der Decke und bläst Luft zwischen die Kunstwolken. Ja, hier wird die Entfremdung angeprangert. Nein, hier wird sie gefeiert. Ja, dies ist schön. Nein, es ist das Grauen. Was auch immer man dazu denken mag, es stimmt zu hundert Prozent.
Solange der Flaneur sich im Metropolitan Museum aufhält, solange er durch die Räume dieser Ausstellung flaniert, kommt ihm ihre Grundthese zwingend vor: Es gibt keine Kunst außerhalb der Andy-Warhol-Kirche. Wenn man aber vor dem Museum im Sonnenlicht steht, fällt einem plötzlich wieder ein: Es gibt ja doch Kunstrichtungen, deren Vertreter konsequent an jener Tradition, die Warhol gestiftet hat, vorbeigemalt haben. Denken wir an die Neuen Wilden in Deutschland, Österreich und der Schweiz, an A.R. Penck mit seinen archaisch anmutenden Strichmännchen, an die Leipziger Schule.
Wenn Warhol eine Orthodoxie begründet hat, dann war das nicht die Häresie; es handelt sich um eine gänzlich andere Religion. In hundert Jahren werden wir wissen, was übrig bleibt.
"Regarding Warhol: Sixty Artists Fifty Years", im Metropolitan Museum of Art in New York City, bis 31. Dezemberhttp://www.welt.de/print/welt_kompakt/kultur/article109365838/Andy-mal-ganz-anders.html