Nachdem ich mir nun etwas verspätet auch beide Plädoyers ansehen konnte, ist mein Fazit, dass es bei beiden Auftritten insgesamt keine riesigen Überraschungen gab.
Es war zu erwarten, dass beide Juristen als rhetorisches Mittel, viele Aspekte etwas überspitzt darstellen, um für ihre Argumente zu werben und ihren Standpunkt klar zu machen.
Nach meinem Empfinden sind beide ihrer Linie treu geblieben – Nel war eher nüchtern, auf das Wesentliche fokussiert. Roux war theatralischer und musste sich gezwungenermaßen insbesondere mit Nebenschauplätzen aufhalten und das Bild des verletzlichen, behinderten Oscars weiter ausschmücken.
Was mich letztlich am meisten überrascht hat, ist, dass sich die Verteidigung tatsächlich traut, mit zwei sich widersprechenden Verteidigungsansätzen anzutreten (auch wenn Roux das natürlich so nicht formuliert hat). Ich halte das für sehr gewagt, aber wahrscheinlich wusste man sich nach dem verpatzten Kreuzverhör von OP nicht mehr anders zu helfen.
Dieser Umstand macht mir am meisten Hoffnung, dass es doch ein gerechtes Urteil geben wird.
Denn schon einzeln betrachtet halte ich beide Verteidigungsansätze für nicht überzeugend. Dass sie nun gemeinsam präsentiert werden, muss dem Gericht zu denken geben. Erneut wird überdeutlich, dass es OP und seinem Verteidigerteam nicht um die Wahrheit geht, sondern nur darum, möglichst ungeschoren aus der Angelegenheit herauszukommen. Zur Erreichung dieses Zieles sind alle Mittel recht: Notfalls wird die verstorbene Mutter mit reingezogen, es werden Experten gekauft, die nicht vorhandene Angststörungen diagnostizieren, vor Gericht wird eine herzzerreißende Mitleidstour gefahren – inklusive Weinkrämpfen und Würgeanfällen.
Zum Schluss darf sich nun das Gericht aus einem Potpourri eine ihm genehme Verteidigungsstrategie aussuchen. Zur Wahl steht zunächst ein reflexartiges Handeln, bei dem OP sich nicht selbst steuern und schon gar nicht über sein Handeln nachdenken konnte (Defence of Involuntariness).
In einem anderen Beitrag hatte ich bereits unter Verweis auf Prof. James Grant deutlich gemacht, dass diese Verteidigungsstrategie nur in absoluten Extremfällen zum Erfolg führt:
Eine unfreiwillige Handlung liegt nur dann vor, wenn der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage war, sein Verhalten willentlich zu steuern. Typische Fälle sind Handlungen während eines epileptischen Anfalls, beim Schlafwandeln oder ggf. im Vollrausch. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass menschliches Handeln freiwillig geschieht. Wenn der Angeklagte etwas anderes behauptet, muss er dies schlüssig nachweisen. Als Nachweis kann in diesem Fall nur die Aussage Dermans in Betracht kommen. Der allerdings hat selbst zugegeben, dass auch bei einer Handlung unter einer fight-Responce die Denkfähigkeit nicht vollständig ausgeschlossen wird. In Folge einer reduzierten Durchblutung des thinking brain kann es lediglich zu Einschränkungen kommen, die Derman allerdings nicht quantifizieren kann (abgesehen davon, dass er nicht ansatzweise erklären konnte, wie genau und warum OP auf die unterschiedlichen Startles reagiert hat). Nicht mal Dermans Aussage genügt daher den sehr hohen Anforderungen der Defence of Involuntariness. Hinzukommt OPs eigene Schilderung, wonach seine Handlungen bis zu den Schüssen durchweg durchdacht und wohl überlegt waren. Dies ist nicht mit einem automatischen, nicht steuerbaren Verhalten vereinbar. Zudem wurde hier bereits zutreffend ausgeführt, dass sich durch einen Reflex ohnehin bestenfalls die Abgabe eines Schusses erklären ließe – nicht aber das Abfeuern von 4 Schüssen.
Da OPs widersprüchliche Aussagen im Kreuzverhör sich allerdings noch am ehesten mit dieser defence vereinbaren ließen, war dies wohl die erste Wahl. Offenbar ist aber auch der Verteidigung bewusst, dass man für diese defence nicht genug aufgeboten hat. Insofern steht als Back-up die gute alte Putativnotwehr bereit. Wenn also das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass die 4 Schüsse sich nicht ausschließlich durch einen Reflex erklären lassen, sondern es doch noch ein paar kognitive Funktionen gab, dann soll das Gericht doch bitte davon ausgehen, dass OP absichtlich schoss und zwar zu dem Zweck, Reeva und sich vor dem drohenden Angriff zu schützen.
Hier wird deutlich, dass die beiden Verteidigungsansätze niemals miteinander vereinbar sind – sie schließen sich gegenseitig aus. Entweder handelt man aus einem unkontrollierten Reflex heraus, ohne nachdenken zu können, oder man handelt absichtlich, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Beides funktioniert nicht. Dies hat Nel gleich zu Beginn seines Plädoyers und auch noch einmal ganz am Ende sehr deutlich herausgearbeitet.
Letztlich halte ich auch die zweite Defence (Putativnotwehr) isoliert betrachtet für nicht erfolgversprechend. Auch hier liegen die notwendigen Voraussetzungen nicht vor: Es fehlt eine Bedrohung (Präventivnotwehr ist unzulässig). An dieser Stelle soll dann wohl der in OPs Zusammenhang mMn extrem unpassende und geschmacklose slow burn-Effekt zum Tragen kommen, der das Verhalten einer über Jahre hinweg missbrauchten Frau erklärt (wahrscheinlich wollte man sich mit diesem Vergleich Masipas Sympathien verdienen, da sie sich sehr für die Rechte missbrauchter Frauen einsetzt. Ich denke, der Schuss ist nach hinten losgegangen. Sie wirkte nicht beeindruckt.). Wegen dieses Effektes soll er eine Bedrohung gesehen haben, wo gar keine war. Aber selbst wenn man zugunsten OPs eine Bedrohung unterstellt, hat er (wissentlich) völlig unverhältnismäßig gehandelt und wurde damit selbst zum Angreifer, was ebenfalls eine Mordverurteilung begründet. Hinzukommt hier, dass OP selbst mehrfach abgestritten hat, dass er absichtlich geschossen hat. Er wollte nicht einmal den Abzug betätigen, Damit fehlt als weitere Grundvoraussetzung der Putativnotwehr die absichtliche Verteidigungshandlung zur Abwehr des vermuteten Angriffs.
Die beiden Defences können Pistorius in der bisherigen Form daher nicht helfen. Es müsste (erneut) für ihn ein Präzedenzfall geschaffen werden, was grundsätzlich möglich ist. Allerdings bezweifle ich, dass es gewollt sein kann, für ängstliche Behinderte einen Standard zu etablieren, wonach man ungestraft vorsorglich mehrfach durch geschlossene Türen mit Black talon-Munition auf Menschen schießen darf.
Beide Defences kämen ohnehin erst dann zum Zuge, wenn das Gericht OPs Version akzeptiert. Dabei hat Roux mit der Erstellung der Timeline sicher grundsätzlich einen guten, aber für seine Verteidigung auch zwingend notwendigen Job gemacht (er musste schließlich irgendwie die schwer belastenden Zeugenaussagen der Stipps sowie von Burger/Johnson rauskegeln). Wenn man sich allerdings nicht nur oberflächlich mit dem Fall beschäftigt hat (was für die Richterin und ihre beiden Beisitzer zutrifft), wird sehr schnell klar, dass sich Roux sämtliche Zeugenaussagen so zusammengebastelt hat, dass sie in seine Version passen. Das wurde hier ja schon in einigen Beiträgen verdeutlicht.
Insbesondere bei seinem Versuch, die von Mrs. Burger gehörten 4 Schüsse unglaubwürdig erscheinen zu lassen, wurde durch die Nachfrage der Richterin erkennbar, dass sie das nicht überzeugt. Auch an den Stipps hat Roux sich ja redlich abgearbeitet. Es ist aber nicht sehr durchschlagend, wenn man sich zwar einzelne Aussagen dieser Zeugen zunutze macht, sie aber bzgl. anderer Angaben als unglaubwürdig darzustellen versucht.
Letztlich passen nicht mal die von der Verteidigung selbst geladenen Zeugen zu OPs Version. Außer Mrs. Nhlegenthwa hat niemand etwas Schussähnliches gehört. Nach OPs eigener Aussage hat er unmittelbar vor und auch nach den Schüssen geschrien. Diese Schreie hat keiner der direkten Nachbarn gehört. Auch die Schläge müssen sie trotz der räumlichen Nähe überhört haben – diese wurden dafür von den am weitesten entfernten Nachbarn (Burger/Johnson) gehört – allerdings in falscher Anzahl.
Auch Mrs. van der Merwe hörte nach den 4 bangs erstmal nichts. Es herrschte Stille, dann hörte sie Lärm und erst danach war das Weinen zu hören. Stille nach den bangs passt auch hier nach OPs Version eher zu den Schlägen und nicht zu den Schüssen, vor und nach denen er ja durchgehend geschrien haben will – während er nach den Schlägen zunächst ruhig war. Um 3.12 Uhr hat niemand vier Schüsse gehört. Die Zeiten der Stipps für die ersten Geräusche werden von Roux nicht berücksichtigt. Die Stipps sind lediglich gut genug, die Zeiten für die zweite Geräuschserie zu bestätigen. Für Weiteres kann Roux sie nicht gebrauchen. Wann das help, help, help von Dr. Stipp gehört wurde, wollte Roux schon in dessen Kreuzverhör falsch verstehen und er hat es im Schlussplädoyer fortgesetzt, um Dr. Stipp unglaubwürdig erscheinen zu lassen – dabei war die Aussage von Dr. Stipp, wann er die Hilferufe des Mannes hörte, sehr klar, nämlich nachdem er mit der Security telefoniert hatte und wieder auf seinen Balkon zurückkehrte. Er hörte sie nach der zweiten Geräuschserie (was aber nicht in OPs Version passt).
Wenn man sich die Zeugenaussagen genauer ansieht, wird deutlich, dass sie OPs Version im Wesentlichen nicht stützen, sondern im Gegenteil dieser widersprechen. Dies wird auch dem Gericht nicht entgehen.
Das Vorgehen Rouxs die Zeugenaussagen isoliert zu betrachten und auf deren Glaubwürdigkeit zu prüfen, ist möglicher Weise im Rahmen des Schlussplädoyers ein zulässiges Vorgehen. Es entspricht aber nicht der Herangehensweise, zu der die Richterin verpflichtet ist. Hier gibt es offenbar keine Unterschiede zum deutschen Recht:
Der Grundsatz in dubio pro reo gilt nur nach Ende der gesamten Beweiserhebung und Beweiswürdigung (d.h. nach Berücksichtigung sämtlicher Beweismittel). Ist die Richterin dann von der Schuld des Angeklagten nicht überzeugt und hat vernünftige Zweifel, muss sie freisprechen. Im Umkehrschluss: es darf nicht jede einzelne Zeugenaussage isoliert nach dem Grundsatz „In dubio pro reo“ auf ihre Glaubwürdigkeit hin beurteilt werden. Eine entsprechende Aussage hat Prof. James Grant in einem der von
@KlaraFall eingestellten Clips getätigt.
@Mauberzaus hat daher richtiger Weise angemerkt, dass das Gericht die Zeugenaussagen nicht isoliert betrachtet, sondern sich das Gesamtbild ansieht – dabei wird z.B. auch zu berücksichtigen sein, dass sich die Aussagen der Ohrzeugen, die eine Frau schreien hörten, mit den forensischen Befunden decken.
Insgesamt ist daher nicht nur die von Roux zurecht geschusterte Timeline entscheidend, sondern es kommt vor allem auch auf OPs Glaubwürdigkeit an. In diesem Bereich konnte er nicht punkten – im Gegenteil.
Keinen guten Eindruck macht diesbzgl. z.B. auch der Umstand, dass Roux ganz zum Schluss nun zumindest hinsichtlich des Vorfalls im Tashas auf schuldig plädiert. Es war der Verteidigung von Anfang an bewusst, dass er schuldig ist – man wollte es aber wohl darauf ankommen lassen (wobei ich sicher bin, dass dies nicht die Empfehlung der Anwälte, sondern OPs eigene Entscheidung war). Wahrscheinlich hatte man die Textnachricht von OP an Reeva, wo er selbst den Vorfall einräumt, nicht auf dem Schirm gehabt. Ohne diese hätte man vermutlich die übliche Taktik gefahren und versucht, die Zeugen des Vorfalls unglaubwürdig erscheinen zu lassen.
Insgesamt kann ich mir nach wie vor nur sehr schwer vorstellen, dass das Gericht OPs Version nach Betrachtung aller Beweise und Indizien akzeptieren wird. Aber selbst wenn dies der Fall ist (da dies nur eine Bewertung der Fakten wäre, könnten die Assessoren die Richterin hier überstimmen), machen mich die zwei sich gegenseitig ausschließenden Defences zuversichtlich, dass es am Ende für eine Mordverurteilung reicht, denn OP hätte auch nach seiner Version einem anderen Menschen keine Überlebenschance eingeräumt und diesen absichtlich getötet.
Auch wenn ich angesichts des Verhaltens von OP und seiner Familie, das suggeriert als wäre die Angelegenheit mit den Schlussplädoyers für ihn ausgestanden, etwas beunruhigt bin, versuche ich, der Urteilsverkündung am 11.9. zuversichtlich entgegen zu sehen.