Moralische Frage: Suizid verhindern, Ja oder nein?
29.05.2022 um 01:12
Ich beobachte diesen Thread auch schon eine ganze Weile: Meine Meinung: So generell lässt sich doch so eine Frage nicht beantworten, da es auf die Umstände ankommt - sehr oft ist es eine individuelle Konstellation.
Das Problem ist, dass wenn man in einem gedanklichen Tunnel ist, dann kommt man sehr schwer aus diesem Tunnel raus, sieht oder glaubt aber gar nicht, dass es Alternativen gibt. Ich war auch schon ein paar Mal in dem Tunnel, v.a. in meiner Jugend. So als Beispiel, wie schnell man auch ohne Depression in so einem Tunnel landen kann und wie viele Komponenten da mit reinspielen:
Ich bin in einem sehr lieblosen Elternhaus großgeworden, Konflikte waren an der Tagesordnung, also habe ich mit 16 mein Zeug gepackt und habe mir eine Ausbildung weit weg von zu Hause gesucht. Meine Eltern hatten auch keine wirkliche Lust mehr auf Kontakt, so lebte ich mit 16 teilweise sehr sehr alleine in der Nähe meines Lehrbetriebs. Vor allem die Wochenenden waren total die Hölle, weil ich von Freitag - Montag wirklich alleine war, ich wohnte in einer Dachkammer bei zwei total stoffeligen Rentnern, die nur aufpassten, dass ich niemanden mitbrachte (Kupplungsparagraph), sonst aber keinen Kontakt wollten.
So sehr ich die Freiheit auch genoss - ein einsames Wochenende fühlte sich manchmal wie Wochen an. Wenn das Wetter schön war, setzte ich mich einfach auf mein Fahrrad und fuhr irgendwo in die Natur und las und redete mir ein, dass es schon wieder anders werden würde. Mein Problem war, dass mein gesamtes häusliches Umfeld eben auch daheim in meinem Dorf war und ich es nicht schaffte, in diesem neuen Dorf in die Dorfstrukturen vorzudringen, ich war irgendwie eine Exotin. Mit 16 findest du auch wenig Freunde, die die gleichen Freiheiten haben wie du, die meisten wohnen eben noch daheim.
Ich habe das Gefühl oft verdrängt, dass ich alleine bin oder mir selbst gesagt, dass es nun nicht so schlimm sei, eine Phase halt. Tatsächlich gährte es unter der Oberfläche massiv. Ich gab mir die Schuld dafür, dass mich meine Eltern nicht liebten. Ich hielt die Einsamkeit immer schwerer aus. Ich fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Damit ich überhaupt Anerkennung bekam, "überkompensierte" ich völlig, z.B. in meinem Lehrbetrieb. Ich muss der absolut perfekte Lehrling gewesen sein - ich erledigte alle Aufgaben zu 120%, nur, damit ich ab und zu ein Lob abstaube (meine Lehrherren blieben trotzdem die Jahre über auf Distanz, sie wurden menschlich nicht warm mit mir). Ich kam mir total verloren vor - und führte es auf mich und meine Persönlichkeit zurück "nicht wert, geliebt zu werden".
Ich wurde immer emotionaler und verzweifelter - ohne es nach außen zu zeigen. Beispielsweise wachte ich einmal an einem Sonntagmorgen auf und hielt meine muffige Dachkammer nicht mehr aus. So schwang ich mich aufs Rad und fuhr in die Natur und fühlte mich so schrecklich einsam. Um in dieser dörflichen Gegend überhaupt unauffällig unter Leute zu kommen, ging ich in die Kirche - einfach, um irgendwelche menschliche Nähe zu haben, in den Gottesdienst. Dort traf ich eine Klassenkameradin aus der Berufsschule - ich kannte sie nicht mal gut, mehr vom Sehen. Ihre Eltern luden mich sofort zum Mittagessen ein - und es war wie in einem Heimatfilm - sie lebten auf einem Bauernhof, mit den Großeltern, es gab leckeres Essen, die ausgezogenen Geschwister kamen und man saß um den Tisch, redete, lachte .... mittags futterte man selbstgebackenen Kuchen, die Frauen strickten, die Männer schauten Fußball, es wurde viel gelacht .... als ich gehen wollte, regnete es, so verbrachte ich den gesamten Mittag da und abends fuhr mich der Vater mit dem Rad heim. Ich weiß noch, wie ich den gesamten Abend in meiner Dachstube geheult habe, weil ich den Tag so schön und idyllisch fand und nun wieder so alleine war und wieder diese nagenden Fragen auftauchten, auf die ich keine Antwort hatte.
In der Berufsschule lernte ich einen anderen 16 Jährigen kennen und wir verliebten uns ... für ein paar Wochen wunderschön und ich fühlte mich so aufgewertet ... dann bekam er wohl kalte Füße und meldete sich einfach nicht mehr. Das war das Allerschlimmste, weil ich so zwischen Bangen und Hoffen war - der anschließende Liebeskummer zog mich auf einen neuen Tiefpunkt und es tauchten erstmals Suizidgedanken auf.
Dann lernte ich auf einer Party meinen ersten festen Freund kennen: acht Jahre älter als ich, Student mit Topnoten und riesigem Freundeskreis... und er füllte das irre Defizit in mir. Erst hatte ich Angst, ihn in mein Leben zu lassen, weil ich Angst hatte, wieder auf dem Tiefpunkt zu landen und das spornte ihn immer mehr an. Endlich war ich jemandem wichtig. Ich wurde praktisch süchtig nach dem Gefühl. Fortan war der Sinn meines Lebens, diesen Mann so glücklich zu machen, dass wir für immer gemeinsam glücklich wären.
Das ging natürlich gründlich schief. Er hatte ziemlich narzistische Züge und ich entwickelte mich immer mehr zum Co-Narzisten, da er wusste, ich würde ihn niemals verlassen. Ich war zeitweise auch finanziell von ihm abhängig, der Mietvertrag lief auf seinen Namen ... ich saß total in der Falle. Ich wurde in seinen Freundeskreis eingeführt und tat in meiner Freizeit nun das, was alle tun: Weggehen, Grillfeste, lernen .... Die Beziehung dauerte acht lange Jahre.
Gelangweilt und vermutlich auch erstickt von meiner "Liebe" begann er fremdzugehen, trennte sich aber auch nicht, vermutlich, weil er auch durchschaut hatte, dass meine emotionale Abhängigkeit weit über die einer normale Beziehung hinausging: Er war alles für mich, der Mann, der meinen Wohnraum garantierte, der Mann, von dem ich Liebe und Anerkennung bekam, der Mann, der der Sinn meines Lebens war, der Mann, dessen Hobbys und Freundeskreis ich teilte - extrem gruselig aus heutiger Sicht. Damals war ich wie gefangen.
Ich gestand mir einfach nicht ein, dass es diese andere Frau gab und dass ich mich nun trennen sollte, weil es auch aus wirtschaftlichen Gründen echt schwer gewesen wäre. Wieder redete ich mir ein, dass es eine Krise war und wenn ich nur dünner, netter und bemühter wäre, dann würde das wieder ins Lot kommen. Ich hungerte mich fast zu Tode, weil er auf sehr dünne Frauen stand.
Ich fuhr damals mit dem Zug zur Arbeit. Es kam eine Nacht, in der er einfach nicht nach Hause kam. Er war zu feige zu agieren und wartete auf meine Reaktion. Das war eine entsetzliche Nacht, weil ich einfach nicht mehr verdrängen konnte, was da passierte. Ich saß auch stundenlang auf seinem Tiefgaragenstellplatz, weil ich es in der Wohnung alleine nicht mehr aushielt. Ich dachte soweit rational, dass ich am nächsten Morgen in die Arbeit ging (das war ja meine Lifeline ...) und ich saß am Bahnhof und überlegte, als der Zug einfuhr, ob ich meinem Leben nicht besser ein Ende setzen sollte. Ich war sehr kurz davor, es zu tun, da ich solche Angst vor der Zukunft hatte, vor einer Zukunft ohne ihn.
Ich weiß nicht, warum ich mich damals dann doch umentschieden habe. Es war eine Sache von Sekunden, aber der Gedanke blieb bei mir. Man hätte mir damals nicht helfen können - zumindest nur professionell und nicht laienhaft. Ich hätte mir ja ein gesamtes Leben neu aufbauen müssen, mit allen Säulen, die ein Leben so hat: Freunde, Hobbys, Beruf, Sinn ... Ich hätte auch mit niemandem reden können darüber, wie wichtig mir dieser Mensch war, weil ich mich so unendlich dafür schämte, dass der Mann mich nun nicht mehr liebte und ich die Schuld bei mir suchte. Außerdem hatte ich damals immer Angst, den Leuten Zeit wegzunehmen, weil ich dachte, dass ich es nicht wert bin. Und wenn du das denkst, dann hast du auch so eine Aura ....
Daher ... es ist echt schwierig - wie gesagt, eine Laieneinzelperson hätte das nicht hinbekommen, ich hätte mich auch nicht geöffnet, weil ich mir viele Dinge selbst nicht eingestehen konnte.