@Kc Natürlich sind die Eltern gefordert. Was aber, wenn die sich ihrer Erziehungspflicht, aus welchen Gründen auch immer, verweigern?
Ist aktive Gewalt durch Kinder und Jugendliche möglicherweise eine Folge von erlebter innerfamiliärer Gewalt?
Kann oder soll es Aufgabe von staatlichen Institutionen sein, auffällige Kinder und Jugendliche zu erkennen und zu "therapieren"?
Gibt es möglicherweise Menschen, die nicht für die menschliche Gemeinschaft gemacht sind, und die besser hinter hohen Mauern lebenslänglich verwahrt blieben?
Wie sind die Grenzen zwischen Schutzbedürfnis der Gesellschaft und Menschenrechten der Verhaltensauffälligen zu ziehen?
Ich fürchte, es gibt keine allgemeingültigen Antworten auf solche Fragen. Der einzige Trost ist, dass "Jugendkriminalität" offenbar, allen Medienrummels zum Trotze, rückläufig ist, nicht zuletzt, weil es immer weniger Kinder und damit Jugendliche gibt.
Passend dazu:
"Die Schläger-Zwillinge von Bad Pyrmont: Nicht die Gesellschaft hat versagt, sondern Erziehungsberechtigte, die nicht erziehungsfähig sind
Von Ralph Lorenz
Die beiden jugendlichen Schläger von Bad Pyrmont haben Pech. Mit 14 Jahren sind sie schon für das Jugendstrafrecht greifbar. Gleichzeitig haben sie Glück – Jugendstrafrecht ist nicht Erwachsenenstrafrecht. Sie dürfen auf die erzieherische Milde eines Jugendrichters hoffen.
Der dritte im Bund, ist unter 14 und damit nicht einmal dem Jugendstrafrecht unterworfen. Das zehnjährige Opfer indessen hat hingegen „lebenslänglich“. Denn ein Leben lang wird sich der zehnjährige Junge an die traumatisierende Situation erinnern, dass in aller Öffentlichkeit und unerwartet drei Menschen über ihn herfallen, ihn brutal schlagen und selbst dann noch auf ihn losgehen als er schon hilflos am Boden liegt. Die Polizei, selbst immer wieder Zielobjekt von Gewalt in der Gesellschaft, versucht mit Hilfe von Zeugenaussagen den Hergang zu ermitteln. Aber was lässt sich da letztendlich rekonstruieren? Gibt es überhaupt eine annähernd nachvollziehbare Erklärung für das Geschehene, das bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat? Jetzt steht ausgerechnet das betulich-beschauliche Bad Pyrmont in einer Linie mit den spektakulären Tatorten von „S-Bahn-Schlägern“, die auf ihre Opfer selbst dann noch eintreten, wenn sie bereits zu Boden gegangen sind.
Die Steigerung in dem Fall von Bad Pyrmont besteht darin, dass es dazu noch Jugendliche waren, keine testosteron-gesteuerten spät pubertierenden Heranwachsenden. Dazu waren es noch Zwillinge, auf die sich die Aufmerksamkeit lenkt. Offenbar kein unbeschriebenes Blatt, was die „Polizeibekanntheit“ betrifft. Dem Opfer scheint es wieder besser zugehen. Es ist „nur noch“ von einem Bauchtrauma die Rede.
Auch wir hatten unsere Raufereien gehabt - aber eben auch andere Vorbilder
Doch wer tritt einen am Boden liegenden Menschen mit Füßen? Auch wir waren nicht ohne. Rauferei auf dem Schulhof, am Straßenrand gab es in unserer Kindheit gewiss nicht seltener als heute. Blaue Flecken waren die stolzen Insignien eines Kampfes „Mann gegen Mann“ – auch wenn die beiden Männer noch Mühe hatten den Schulranzen zu schultern.
Aber den Gegner zu treten, wenn er bereits am Boden lag? Klar, den nahm man in den „Schwitzkasten“ und kam selbst dabei ins Schwitzen. Und zimperlich war man auch nicht gerade. Die Vorbilder der Gewalt – jawohl, das gab es auch damals schon - unterschieden sich aber kontrastreich von den heutigen Stereotypen. Die damaligen Finsterlinge hatten immer auch eine Gaunerehre. Und dann gab es die Edel-Fighter: Karl May und Winnetou, die edlen Kämpfer für die gute Sache und daher mit der Lizenz zum Prügeln ausgestattet, hatten gar als ritterliche und gleichwohl strafende Heldenfiguren ganze Generationen erzogen – bis zu dem damaligen ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, der sich darauf ungeniert berufen hatte. Und das Macho-Wesen war ihnen grundsätzlich fremd. In den 80ern kam dann "Rambo". Die Hero-Typen von heute sind frauenverachtend, brutal, „geboren um zu Töten“, mit Utensilien wie Kettensägen und Pumpgun als Grundausstattung, fahren aber immer die teuersten Wagen und halten sich an keine Verkehrsregel – der gehobenere Level der Finsterlinge vernichtet die Welt dann mit Raketenwerfern und nuklearem Arsenal.
So gesehen war das Schläger-Trio von Bad Pyrmont schon wieder überschaubar, weil nicht auf Weltvernichtung ausgerichtet. Nur, dass hier echtes Blut geflossen ist. Blut, bei dem wir früher spätestens aufgehört und dem Gegenüber das eigene Taschentuch verschämt gereicht haben, mit einem Wort der Entschuldigung und innerlichem Erschrecken. Kara Ben Nemsi hätte das auch getan.
An diesem Fall dürfen sich wieder die Psychologen abarbeiten
Jugendpsychologen werden nun herausfinden wollen, was da alles schief gelaufen ist bei den drei Tätern aus Bad Pyrmont. Gutachter möglicherweise begründen, weshalb die Vierzehnjährigen eigentlich noch nicht „Schuld-fähig“ sein können. Natürlich war es wieder mal das Elternhaus. Die Opposition wird noch mehr Geld für Sozialarbeiter verlangen, für "Streetworker". Gewiss wird man auch schnell auf den Einfluß irgendwelcher Computerspiele kommen wollen.
Doch weshalb sollen die jungen Täter eigentlich noch nicht reif genug sein für die Schuldfrage?
Das ist nämlich im Grunde genommen schon ein Siebenjähriger. Er kann sein Tun durchaus überschauen. Grundlage für die Schulderkenntnis ist das Vorhandensein von Moral. Moral aber scheint völlig aus der Mode gekommen. Schlimmer noch: Wer von Moral spricht, wird als "Moral-Apostel" in die Ecke gestellt. Mit vorliebe in die rechte. Es gibt sie nicht zum „Geiz ist geil“-Preis an der Straßenecke, die Moral. Moral ist ein hochwertiges Produkt der Erziehung. Gerade auch durch die Mitverantwortung der Umgebung. Moral entsteht ganz ohne ISO-Zertifizierung. Ohne Gesinnungs-TÜV. Auch wird sie in keiner PISA-Studie als Lernziel benannt. Moral kann jeder haben, wenn er sie denn entwickelt. Moral wird auch nicht nur in der Kirche gepredigt. Sie ergibt sich aus dem Alltagserlebnis und der Erkenntnis, dem anderen nichts antun zu wollen, was man nicht selbst am eigenen Leib möchte. Ein wunderbar simpler Satz, dem Kantschen Imperativ entsprungen.
Man muss Eltern haben, die nicht nur erziehungsberechtigt sind sondern auch erziehungsfähig
Dazu muss man den Philosophen nicht kennen oder gelesen haben. Man muss nur Eltern haben, die wirklich diese Bezeichnung verdienen. Und weil manche Kinder Vater und Mutter haben, aber eben keine wirklichen Eltern, Erziehungs-Berechtigte also, aber keine Erziehungs-Fähigen, geschweige denn Vorbilder und die einzig zuverlässige Konstante zuhaus der eingeschaltete Fernsehapparat oder Spielecomputer ist, muss diese Aufgabe heutzutage der Jugendrichter übernehmen. Wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Oder nicht weniger schlimm.
Wenn das Kind schon am Boden liegt. Mit Verdacht auf innere Verletzungen. Mit der Gewissheit, seelischer Schädigung.
Ich weigere mich aber gegen die Routine, der Gesellschaft, dem Kindergarten oder der Schule stets eine Mitschuld zu geben!"
Weserberglandnachrichten.de 12.10.11