Familienbande: Netz oder Fesseln?
25.03.2008 um 00:00
Ein Sonntag vor knapp 33 Jahren bescherte meiner Familie mich, drittes Kind und letzter Versuch, eine Tochter zu bekommen. Meine Brüder sind 3 und 9 Jahre älter, Eltern Jahrgänge 1937 und 1940, er ein Westfale, Dipl.-Ing., sie aus Pommern geflohen, Hausfrau und Muttertier. Sie studierte Religion, wollte mal Religionslehrerin werden, nahm mich im sich rundenden Bauch immer mit zum Unterricht, und manchmal scheint es mir, daß ich damals mindestens so aufmerksam zugehört habe wie sie... ;)
Meine Eltern waren zwischen 1966 und 1972 (genau weiß ich es gerade nicht) von Goch nach Berlin gezogen, weil mein Vater hier eine Stelle in den BMW-Motorradwerken bekommen hatte. Als ich geboren wurde, lebte unsere Familie in einem Hochhaus in Berlin, die Großeltern in Westfalen und der Pfalz. Eine ältere Nachbarin im Hochhaus wurde meine dritte Oma, sie war vernarrt in mich, hatte sich immer eine Tochter gewünscht und keine bekommen. Sie ging mit mir in den Zoo, ins Aquarium, nach Lübars zum Schweinerennen oder in den Zirkus. Wir zogen in den grünen Norden Berlins als ich 2 war, in eine Doppelhaushälfte mit einem eigenen Zimmer für jedes Kind und einem kleinen Garten. Zur Grundschule waren es nur gut 5 Minuten zu laufen, der Autoverkehr war damals noch so gering, daß wir stundenlang ungestört auf der Straße mit Kreide malen oder fußballspielen konnten. Wir waren mit den Nachbarskindern befreundet, kletterten auf Nachbars Obstbäumen herum, bestaunten deren Katzenbabies und sprengten zu Silvester gelegentlich ein paar Spielzeuge in die Luft... Meine Kindheit war behütet und zum allergrößten Teil harmonisch. Als ich 8 war, nahm meine Familie ein Heimkind auf, er war 2 Jahre jünger als ich. Zum ersten Mal lernte ich einen Menschen kennen, der aus Prinzip immer log, der klaute wie ein Rabe, der Lebensmittel auf dem Kleiderschrank hortete und dort vergammeln ließ, einen Menschen, der eigentlich ein bißchen wie ein kleines Tier in einer Höhle hauste. Meine ganz private "Ausbildung" darin, Menschen zu verstehen und zu durchschauen, begann mit diesem kleinen Kerl, der nun mein Bruder war...
Mein ältester Bruder begeisterte sich schon lange für Kampfsport, war inzwischen Trainer für Ju-Jutsu, und ich ging etwa 3 Jahre lang hin, hörte erst aus gesundheitlichenh Gründen auf, kurz vor der Prüfung zum Grüngurt.
Als ich 12 war, kam der zweite "fremde Bruder", intelligent im Gegensatz zum ersten, aber - ebenfalls im Gegensatz zu ihm - mit einem miesen Charakter ausgestattet, ein kleiner Aufmischer, der die Gültigkeit aller Regeln und die konsequente Zuverlässsigkeit meiner Eltern und von uns allen täglich auf die Probe stellte. Bis heute ist er der einzige Mensch, den ich je töten wollte... Diese zwei angenommenen Jungs waren zusammen unausstehlich, sie machten unsere ganze Familie fix und fertig, und ich reagierte psychosmatisch, wodurch ich einige Monate der Schule fernbleiben und ein Schuljahr wiederholen mußte. Als harmoniegewöhnter und -verwöhnter Mensch hatte ich nie gelernt, Konflikte zu lösen, jedenfalls nicht so, wie diese kleinen Bestien es erforderten. Haß und Mordlust beflügelten meine Tagträume, aber sowas tun... niemals. Jede Art, Spannung zornig abzubauen, war mir völlig fremd, vielleicht sogar tabu in unserer Familie. Bei uns redete man miteinander, aber ich hatte eigentlich nur noch Lust, vor allem dem kleineren der beiden die Fresse zu Brei zu schlagen. Natürlich ist das nie passiert, aber als ich dann "explodierte", versuchte ich, ihn die Treppe runterzustoßen. Es gelang mir zum Glück nicht, er hielt sich fest, aber mir war von dem Tag an klar, daß ich die Kraft hatte, mich zu wehren, daß ich kein Opfer bin, daß ich mir nichts gefallen lassen muß. Sein Verhalten änderte sich nicht, aber mir wurde es ein Stück gleichgültiger. Es war jetzt OK für mich, ihn zu hassen, ich machte mir keine Gedanken mehr drum.
Ich war, glaube ich, 20, als der dritte kam, der war schon 12, ruhig, freundlich und lustig, und der zweite, den ich so gehaßt habe, verließ uns kurz darauf, mit 16, um endlich wie ein Penner leben zu können. Er hatte offenbar keine höheren Ansprüche ans Leben, außer so lange schlafen zu können wie er wollte und keinerlei Anforderungen gerecht werden zu müssen. Später hat er sich wieder einigermaßen gefangen, aber was so mit ihm passierte, nachdem er unsere Familie verlassen hatte, hat mich eigentlich nie interessiert.
Ich hatte Abitur gemacht, mit Deutsch und englisch als Hauptprüfungsfächer, und begann ein Germanistik- und Anglistik-Lehramtstudium an der HU Berlin. Das war eigentlich nicht wirklich meine Idee gewesen, sondern die meiner Mutter, die ja immer hatte Lehrerin werden wollen. Und ich, ich wußte nicht, was ich wollte. Also machte ich, wie immer bis dahin, was sie wollte, brav und willenlos. Aber so kann man nicht studieren, da muß man mit Interesse und Ehrgeiz hinterstehen, und da ich das nicht tat, gab ich das Studium nach 2 Jahren auf. Das gab einen Riesenkrach mit meiner Mutter, und ich fühlte mich nach dem geschmissenen Studium ein bißchen als Versager. Ich fastete 3 Wochen, teils, um mir zu beweisen, daß ich mich unter Kontrolle hatte und disziplinieren konnte, teils, um abzunehmen. Dann informierte mich über alle möglichen Ausbildungen, entschied mich für die Ergotherapie, bewarb mich um einen Ausbildungsplatz und mußte warten. Ich machte ein 6wöchiges Praktikum in einer Klapsmühle, das war eine sehr interessante Zeit. Die Wartezeit wurde meinen Eltern zu lang, ich ging inzwischen in einer Fabrik arbeiten, und meine Mutter entschied wieder mal, was aus mir werden sollte. Ich wollte Heilpraktikerin werden, sie fand das nicht gut, das sei nicht seriös, ich solle doch lieber Physiotherapie lernen. Damit fand ich mich ab, ich hatte mich noch immer nicht "emanzipiert", machte also diese 3jährige Ausbildung und fand anschließend keine Stelle. Wann immer ich was wollte, was nicht ihre Idee war, mußte ich dafür kämpfen, und das kostete mich unheimlich viel Kraft. Ich war es überhaupt nicht gewöhnt, mich mit jemandem streiten zu müssen, um was tun zu können, aber irgendwann ging es nicht mehr anders, und ich lernte es. Das war eigentlich an dem Tag, wo ich entschied, für ein Wochenende nach Österreich zu fahren, um eine Einführungsveranstaltung der RSE (Ramtha´s School of Enlightenment) zu besuchen. Ich hatte tatsächlich noch nie zuvor etwas gegen meine Mutter durchgesetzt, was ich wollte. Ich glaube, was sie bei unserem Gespräch am meisten entwaffnete, war, daß ich ihr keine Vorwürfe machte, sondern ihr sagte, daß ich es mir selbst nie verzeihen würde, wenn ich nicht anfing zu tun, was ich wollte.
Ich verstehe mittlerweile immer mehr und immer besser, warum das alles so schwer war... Für sie, weil sie keine andere Selbstidentifikation außer der als Mutter für sich gefunden hatte, und ihre Kinder wurden alle erwachsen. Mich loszulassen hieß, daß sie ihre Identifikation verlor.
Für mich, weil ich so behütet worden war und die Familie alle meine Bedürfnisse so abgedeckt hatte, daß ich mich nie zuvor selbst hatte drum kümmern müssen, schon gar nicht im Widerstand gegen irgendwen.
Wir sind damit noch nicht ganz fertig, meine Familie bedeutet für meinen Geschmack noch immer zuviel Fessel, aber natürlich auch Netz.