Selbstverletzung
24.10.2007 um 22:19
Hier mal etwas über die verschiedenen Funktionen von selbstverletzendem Verhalten (Quelle: "Blumenwiesen.org" in Zusammenarbeit mit Ulrich Sachsse)
Selbstverltzendes Verhalten kann für die Betroffenen unterschiedliche Funktionen erfüllen. Hier sind die einzelnen Funktionen erklärt. Das Selbstverletzende Verhalten dient als verzweifeltes Mittel zur Selbstbehandlung. Wir orientieren und bei der Darstellung an dem deutschen Experten für Selbstverletzendes Verhalten Prof. Dr. Ulrich Sachsse.
Selbstverltezndes Verhalten als Abbau unerträglicher Spannung
Eine für sehr viele Betroffene wesentliche Funktion besteht darin unerträgliche inne Spannung zu beenden. Durch das Sichselbstverletzen tritt sofort eine starke Beruhigung ein. In Moment des Verletzens wird kein Schmerz empfunden, der Schmerz kommt erst später. So kommt es leider immer wieder zu sehr tiefen und möglicherweise gefährlichen Verletzungen sowie zu entstellenden Narben. Menschen, die sich so verletzen, beenden damit eine Form der Dissoziation, die Deperseonalisation. Diese ist von Anspannung und sich nicht fühlen können gekennzeichnet. Mit der Verletzung kommt das Gefühl zurück.
Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Dysphorie und Depression
Die Selbstverletzung wird im Anschluß oft von den Betroffenen als Niederlage, als Versagen empfunden. Dadurch werden neue Selbstverletzungen provoziert. Beipielsweise Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung können in Situationen der Einsamkeit und des Alleinseins in ein Gefühl der Dysphorie, der Leere und der Inhaltlosigkeit fallen und dadurch überwältigt werden. Zur Abwendung dieses Zustandes wird die Selbstbeschädigung als Antidepressivum und Antidysphorikum eingesetzt (Sachsse, 2000, S. 360-361).
Selbstverletzendes Verhalten als Suizid in kleinen Schritten und als Suizidprophylaxe
Einerseits kann die Selbstverletzung dazu dienen, Gefühlen von Schuld und Versagen zu begegnen, diese zu bekämpfen.
Einerseits kann so die Selbstverletzung ein Szuizid in kleinen Schritten sein, aber andererseits kann die Selbstverletzung dazu dienen, einen Suizid zu verhindern (vgl. Sachsse, 2000, S. 361). Die Selbstbeschädigung kann oft von den Betroffenen im Laufe der Therapie von Suizidimpulsen differenziert werden. Aber es sei zu bedenken, daß das Selbstverletzende Verhalten einen späteren Suizidversuch oder vollendenten Suizid keinesfalls ausschließt. Die Menschen, auf die dies zutrifft, sind eien Minderheit unter allen, die sich verletzen, jedoch darf eine Suizidgefährdung deshalb nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Selbstverletzendes Verhalten als Autoaggeression und Selbstbestrafung
Prof. Dr. Ulrich Sachsse dazu:
Selbstverltezndes Verhalten als Ausdruck von Autoaggression oder zur Selbstbestrafung scheint psychodynamisch dem fokalen Suizid eng benachbart oder gleichgesetzt zu sein. Nicht jede autoagreesive Selbstverletzungshandlung ist aber parasuizidal intendiert. Viele dieser Patienten empfinden rasende Wut auf sich selbst, wenn sie ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht werden, weil die anderen real oder vermeintlich Schlechtes angetan haben oder einfach weil sie sich als "schlechte Menschen" betrachten. Oft hadern sie mit ihrem schweren Schicksal und mit der "ungerechten Welt", nicht selten nachvollziehbar (Sachsse, 2000, S. 361).
Somit reagieren sie ihre angestaute Wut an sich selbst ab. Das ist dann weniger riskanbt, als die Wut an denen rauszulassen, die sie verusacht haben, da diese dann Vergeltung üben könnten. So dient die Selbstverletzung auch als Selbtbestrafung. Dies wird verständlich, wenn man den Kontext realer Traumatisierungen bei den Betroffenen berücksichtigt. Der Täter "wirkt" somit auch Jahre später als Täterintrojekt weiter und fordert Selbstabwertung, Selbstverachtung, Selbstbestrafung - oft gerade in Form von selbstverltzendem Verhalten (Sachsse, 2000, S. 362).
Selbstverltzendes Verhalten als narzistisches Regulanz und Anteil der eigenen Identität
Manche der Betroffenen empfinden Stolz und Lust an ihrer Selbstbeschädigung. Diese Gefühle werden oft, so Prof. Dr. Ulrich Sachsse in der Therapie lange verheimlicht. Sie lehnen beispielsweise eine örtliche Betäubung ab, bei der Behandlung der Verletzungen, egal wie weh es tut.
Selbstverltzung kann aber auch offen zur Schau getragen werden. Man denke dabei an Marilyn Manson, der sich auf der Bühne in die Arme schneidet. Oder aber Betroffene tragen ihre Rasierklinge immer um den Hals. Für jeden sichtbar. Sie können sich so als etwas Besonderes fühlen mit ihrer Andersartigkeit. Bei diesen Betroffenen hält sich das Symptom der Selbstverletzung hartnäckig und ist daher nicht leicht zu behandeln.
Selbstverletzendes Verhalten als neurotische Kompromißbildung zwischen Zeigen und Verbergen
Einerseits kann das Zeigen der Narben und neuer Selbstverletzungen eine Anklage bedeuten, andererseits kann der Wunsch bestehen, etwas zu verbregen. So kann das Selbstverletzende Verhalten auch als eine neurotische Kompromißbildung darstellen. (Sachsse, 2000, S. 362)
Selbstverletzendes Verhalten als Antidissoziativum
Wie eingangs dargelegt, können die Betroffenen sich in einem Zustand der Dissoziation befinden, bevor sie sich selbst Verletzungen zufügen. Sie können sich wie 'lebendig tot' fühlen, in einem Zustand der Leere und Dysphorie. Das Beenden der Depersonalisation, die sie nicht ertragen können, ist so Prof. Dr. Ulrich Sachsse die zentrale Wirkung der Selbstverletzung0 (Sachsse, 2000, S. 363).
Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Derealisation und pseudopsychotische Zustände Die Betroffenen ziehen sich oft in ihre selbstgeschaffene Phantasiewelt zurück oder werden, insbesondere nachts überwältigt von inneren Bildern, "Horrortrips", oft Flashbacks von traumatisierenden Erlebnissen. Wenn sie sich in solchen Momenten schneiden, sind sie befreit von ihrem alptraumartigen Trancezustand und können wieder in die Realität zurückkehren.
Selbstverletzendes Verhalten als Mittel gegen Impulskontrollverlust und Hyperarousal
Bei schnellen Gedankengängen, schnell wechselnden Stiummungen oder instabiler Umgebung kann Selbstverletzendes Verhalten dazu dienen, die Kontrolle zurück zu erlangen. Auch hier wirkt die Selbstbeschädigung beruhigend. Dies ist ein sehr häufiger Grund für Selbstverltezndes Verhalten.
Interpersonelle Funktionen von Selbstverletzendem Verhalten
Es gibt Betroffene, die stolz ihre frischen Wunden zeigen. Aber andere halten ihre Verletzungen so gut wie möglich geheim. Targen im Sommer Pullover und Tshirts mit langen Ärmeln. Eine andere Gruppe, die die Selbstverletzungen anfangs geheim hielt, beginnen in der Therapie ihre Wunden dann demonstrativ vorzuführen.
Immer wieder meinen Laien, das Selbstverletzende Verhalten sei an sich ein "Hilferuf". Das muß so nicht stimmen. Es kann ein bewußter Apell an andere Menschen sein,d a sist aber keineswegs immer so. In einer stationären Therapie oder im persönlichen Umfeld. Menschen, die sich selbst verletzen, lösen widersprüchliche Gefühle aus und senden auch widersprüchliche Signale an ihr Umfeld aus. Sie können ihre Gefühle und Befindlichkeit noch nicht in Worte fassen. Brauchen daher das Mittel der Selbstbeschädigung, um zu kommunizieren. Das kann für nahstehende Menschen schwer auszuhalten sein. Auch für Therapeuten ist das nicht einfach.
Dazu der Experte Prof. Dr. Ulrich Sachsse:
Patientinnen mit selbstverletzendem Verhalten kommunizieren bei einem wenig strukturierten, beziehungs- und konfliktzentrierten Therapieangebot oft widersprüchliche Signale, die sich gegenseitig ausschließen. Das ist typisch für den Double-bind. Sie sagen etwa "Ich lasse mich nicht stationär aufnehmen!" und vermitteln averbal "Ich brauche Hilfe und Außensteuerung". Das provoziert im Interaktionspartnerkraß widersprüchliche Empfindungen, die zwischen intensiver Hilfezuwendung und sadistischer Gegenwehr hion- und herpendeln können (Sachsse, 2000, S. 364).
Die anfängliche Hilfsbereitschaft kann in blanken Haß und kalte Ablehnung umschlagen in solchen Situationen, wenn die Patientin alle Angebote als nicht gut genug, nicht richtig zurückweißt und sich auch schon verletzt hat. Die vollzogene Selbstbeschädigung wirkt als Signal, daß die Umwelt zu insuffizient, zu schlecht war, um halten, trösten und bewahren zu können, und daß sie in einem Akt masochitsischen Triumphes gestraft und bezwungen wurde (Sachsse, 2000, S. 364).
Selbstverletzendes Verhalten als Flucht vor sozialer Überforderung
Es ist nicht so oft der Grund, aber es kommt durchaus vor, daß Betroffene sich aus einem Gefühl der Überforderung heraus selbst verletzen und somit die Patientenrolle suchen, um so ihrer Verantwortung entgehen wollen. Dieser sekundäre Krankheitsgewinn steht nicht am Anfang, erst wenn sie in ihrer Rolle als Patientin oder Patient erfahren haben, welche Auswirkung die Selbstbeschädigung hat, werden sie sie dann instrumentell einsetzen (vgl. Sachsse, 2000, S. 364)