Das Gute/Schlechte in Pädagogen
09.10.2020 um 00:16
Ich bin Lehrerin an einer Brennpunktschule - und ja, vorab, es gibt in jedem Job Leute, die dafür echt nicht geeignet sind und Dinge, die an Schulen passieren, die nicht passieren dürften.
Generell muss ich aber für meine Kollegen mal eine Lanze brechen. Es geht natürlich nicht, hier anonym von Einzelfällen zu erzählen, was bei uns an der Schule schon alles passiert ist - aber - Lehrer in einem schwierigen Umfeld zu sein, ist ehrlich auch ein Drahtseilakt. Ich weiß, dass das nicht das Thema des Threads trifft, aber ehrlich, überall findet ein "gesellschaftsfähiges Lehrerbashing" statt. Und ja, es gibt Idioten - unter jeder Berufsgruppe - auch unter Lehrern. Aber:
Die Schule (bzw. einige Schulformen) ist/sind inzwischen ziemlich aus dem gesellschaftlichen Blick geraten: Das sieht man auch an maroden Schulgebäuden, die es inzwischen im ganzen Land gibt. Am ehesten wird noch das örtliche Gymnasium oder mal eine Grundschule renoviert und farbenfroh bemalt. Bei uns - und bei vielen meiner Bekannten, die Unterrichten - kommt kein Geld für irgendwas an - es regnet durch unsanierte Dächer, die Heizung ist nicht regelbar oder fällt häufig aus (und wegen der Aufsichtspflicht unterrichtet man dann eben auch weiter, wenn es eiskalt ist, man hat ja soooo viel frei), es gibt im Sommer keine Klimaanlagen, die Toiletten sind an vielen Schulen mehrere Jahrzehnte nicht oder nur oberflächlich saniert .... Das wird gar nicht groß thematisiert, es "ist halt so". Viele Klassenzimmer sind zu klein, Fenster gehen nicht auf.
Es gibt auch ganze Schulformen, die belächelt werden, fragt mal einen Hauptschullehrer oder einen Hauptschüler - auch wenn die nun anders heißen. Da reißt man Witze über Kevin - wir haben tatsächlich viele Kevins in unserer Schule - also keine Klischeekevins, sondern Kinder, die echt so heißen und sich durchaus bewusst sind, dass sie, als Kevin an einer Brennpunktschule, nicht die besten Chancen ins Leben haben und darauf auch reagieren. Wir haben Kinder, deren Namen aufgrund einer Rechtschreibschwäche der Eltern phonetisch geschrieben wird und die dann Mädlin oder Renesmee Müller heißen, weil Mama gerne in Traumwelten lebt.
Man propagiert gesunde Ernährung, tatsächlich gibt es meist nur "Aufwärmmensen" - das Essen wird in großen Containern angeliefert, irgendwann morgens und über eine Stunde (oder auch zwei) warmgehalten (die meisten Mensen werden in Schichten betrieben) und dann ausgegeben. Da ein privater Zulieferer dahinter steckt, kocht der so, dass es Teenagern auch schmeckt - also eher Richtung Fast food. Nach außen hin wird das als großer Erfolg verkauft. Es gibt eine warme Mahlzeit - täglich. Der Nährwert ist eher zweifelhaft. Viele Schüler (und Eltern) schrecken aber vor den Kosten zurück, so ist es nicht selten, dass ein Schüler 5x die Woche mittags einen Energydrink und Chips etc. konsumiert. Und niemanden interessiert es. Auch die Eltern nicht. Das ist da Umfeld, in dem wir arbeiten. Es gibt auch kein Geld für Hefte, Bücher, Ausflüge, .... Eltern kommen nicht zum Elternabend, zu Schulfesten oder -aufführungen ...
Das wird gesellschaftlich mitgetragen. Sieht man nun auch bei Corona - es wurde bisher kein Cent investiert - bei uns ist das Mittel der Wahl gegen Aerosole: Lüften. Es gibt viele Schule, da gehen die Fenster nur teilweise oder gar nicht auf. Die Kollegen unterrichten trotzdem. Da sind dann 30 Leute ungeschützt in einem Raum, der Lehrer wechselt alle 45 oder 90 Minuten. Wir bekommen die Fenster auf. Heute Morgen hatte es fünf Grad. Wir heizen zum Fenster raus und alle 30 Minuten reißen wir die Fenster wieder auf, die Bude kühlt aus. Viele Schüler sind nun erkältet - und kommen trotzdem.
Laptops für die benachteiligten Schüler? Digitalkonzept für den Lock down? Alles Fehlanzeigen. Egal, was die Medien sagen. Das gibt es nicht. Beim nächsten Lock down schicke ich wieder Arbeitsblätter, die in manchen Familien direkt im Altpapier landen, ohne dass der Umschlag aufgemacht wurde. Meine Kinder fahren morgens mit dem Zug ins Gymnasium - der Zug ist brechend voll, auch, weil seit Corona ein Abteil abgehängt wurde - warum auch immer. Da macht niemand irgendwas. Es wird nicht mal die Maskenpflicht kontrolliert. Jeder Schulbus ist praktisch ein möglicher Hotspot.
Das sind die Grundvoraussetzungen, unter denen du arbeitest. Als Lehrer bist du inzwischen irgendwie alles: Mediator, Psychologe, Erzieher, Wissensvermittler, Putzfrau, Krankenschwester, Fußabtreter ... Es gibt Schüler, die erzählen dir Geschichten, da könnte man nur weinen. Und es gibt nirgends ein System, das sie auffängt. Sie könnten mitunter das Jugendamt informieren - aber bis du aus einer Familie rausgenommen wirst, das dauert (ewig). Und dann kommst du in eine Jugendhilfeeinrichtung und oft vom Regen in die Traufe. Da hältst du es lieber Zuhause aus, egal, was auch immer das Problem ist. Wir haben Schüler, da streiten sich die Eltern regelmäßig, bei wem das Kind nun wohnt, weil es keiner will. Das macht auch was mit dem Kind. Und mit deiner Unterrichtsatmosphäre, weil es ist nicht ein Kind pro Klasse, oder zwei ... es sind fast alle.
Die meisten meiner Kollegen sind im realen Leben sehr viel netter als im Beruf. Ich auch. Wäre ich im Klassenzimmer so, wie ich wirklich bin - ich könnte mich überhaupt nicht durchsetzen. Unsere Schüler kommen oft aus prekären Wohn- und Familienverhältnissen, mit Patchworkfamilien, inhaftierten oder kranken oder antriebslosen Elternteilen, schlechten Wohnvierteln und unfassbaren allgemeinen Verhältnissen. Da steht niemand morgens auf, weckt das Kind und schmiert liebevoll eine Stulle. Du bist in der Schule -neben diesen Verhältnissen- die einzige andere konstruktiv prägende Instanz. Diese Kinder haben einen sehr rauen Umgangston, oft aber auch einen sehr weichen, verletzlichen Kern. Das wirkt auf nette Schüler oft auch bedrohlich, ist aber im alltäglichen Überlebenskampf eine Überlebensstrategie des Lehrers und des Schülers. Im Lehrberuf werden nun haufenweise Quereinsteiger, die mit hohen Idealen an die Schule kommen und denken, sie könnten es nun besser machen, gnadenlos verheitzt. Du kapierst schnell, dass du nur ein Teil eines Systems bist und wenig ausrichten kann.
Also: Ja, es gibt Idioten unter Lehrern und fast jeder kennt einen :-). Das sollte man nicht entschuldigen, es ist unprofessionell und es geht nicht.
Aber ehrlich - die Bedingungen in dem Beruf sind alles andere als rosig (was nun keine Entschuldigung ist) - nur mal ein Blick von der anderen Seite. Man sollte nicht aus dem Blick verlieren, dass man hier auf einem Pulverfass sitzt, das aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel geraten ist.