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24.06.2005 um 13:21
Europa am Vorabend der britischen Ratspräsidentschaft zeit 26-2005
Vom geizigen Greis
Brüssel/London(c) DIE ZEIT 23.06.2005 Nr.26
Europa ist zweigeteilt, mit einer Art Eisernem Vorhang quer über den Brüsseler Verhandlungstisch. Dort konnten sich die Regierungschefs aus 25 EU-Mitgliedsstaaten vergangene Woche über nichts wirklich einigen. Der Verfassungsvertrag auf Eis gelegt, die nächsten Erweiterungen mit lauter kleinen Fragezeichen versehen, die Haushaltsplanung für die kommenden sieben Jahre erst einmal auf den nächsten Gipfel verschoben.
Immerhin, die Zukunftsfrage ist so hart gestellt wie noch nie. »Die wirklichen Alternativen sind: Will man einen Markt mit ein bisschen Instrumentarium? Oder will man eine politische Union mit allem, was dazugehört?«, fragte Bundeskanzler Gerhard Schröder. Der entnervte EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker ergänzte: »Es gibt jene, die, ohne es wirklich zu sagen, einen großen Markt wollen, und jene, die ein politisch integriertes Europa wollen.« Doch wer sind sie, die da angeblich mit der Verschwiegenheit des Verschwörers zu Werke gehen? Die Antwort kam vom österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel: »Die Briten wollen ein anderes Europa.«
Richtig, wird Tony Blair stolz und trotzig sagen, wenn der Premierminister an diesem Donnerstag vor dem Europäischen Parlament die Ziele seiner EU-Ratspräsidentschaft erläutert, und: Ein effektiveres Europa werde gebraucht. Dabei gehe es nicht um die Wahl zwischen einem sozialen Europa und einem angelsächsischen Marktmodell. Das Soziale stärke nämlich das Ökonomische, wirtschaftliche Erneuerung und soziale Gerechtigkeit bedingten einander. Klingt fast wie Franz Müntefering.
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Peter Mandelson, ein Busenfreund von Blair und EU-Handelskommissar, malte im Guardian am britischen Bild vom künftigen Europa: »Ein neuer Konsens« sei greifbar, »dazu muss man nicht viel über die politische Lage in Frankreich und Deutschland wissen«. Gerhard Schröder und Jacques Chirac nannte Mandelson erst gar nicht mehr beim Namen, altes Eisen eben.
Gewiss nicht beflügelnd ist die Aussicht, weiterhin fast jeden zweiten Euro den Bauern zukommen zu lassen. Da geben die meisten EU-Partner den Briten Recht. Schließlich sagten lange nicht nur die Briten, sondern auch Niederländer, Schweden und Finnen zu diesem Haushalt nein. Fairer Weise sollte man nachtragen: Selbst Jacques Chirac war zu später Stunde zu einem kleinen Bauernopfer bereit. Sechs Milliarden Euro, im Agrarbudget für die künftigen Mitglieder Bulgarien und Rumänien vorgesehen, sollten herausgerechnet werden, und es werde eine Revision der gesamten Ausgaben beschlossen, deren Ergebnis von der EU-Kommission schon im Jahr 2008 vorgelegt werden soll. Blair war das zu vage. Für das »Europa der Zukunft« seien »grundlegende Veränderungen und Reformen« notwendig, wandte er auf dem Gipfel ein.
2007 wird das Schicksalsjahr
Zum Schicksalsjahr wird 2007. Dann soll über den Verfassungsvertrag entschieden sein, dann soll auch die erste Finanzplanung einer erweiterten EU den Brüsseler Alltag bestimmen. Blair und Chirac dürften angesichts dessen denselben Gedanken gehabt haben: Nach 2007 regiert im Elysée-Palast zu Paris ein anderer. Der darf sich dann vor aufgebrachten Bauern rechtfertigen, mag Chirac gedacht haben. Der wird dann hoffentlich Einsicht zeigen, wird Blair gehofft haben.
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© Zeit-Grafik
Juncker, Chirac, Schröder auf der einen Seite; Blair, der Schwede Persson, der eine oder andere Mitteleuropäer auf der anderen – ist es da nicht schon wieder, das Alte und das Neue Europa des Irak-Krieges? Die Fronten täuschen, auf dem gescheiterten Gipfel wurde das deutlich. Geführt vom Polen Marek Belka (»Geht es wirklich ums Geld oder um anderes? Wenn es ums Geld geht, ist Polen bereit, Opfer zu bringen«), boten die zehn Neulinge und Ärmsten unter den EU-Mitgliedern dem reichen Briten nicht nur Verzicht an. Der solidarische Akt demonstrierte eindrücklich ihre Teilhabe am Ganzen. Die Neuen sind da, und sie wollen beileibe nicht nur Geld.
Mit einem Male stand der Brite als Mister Scrooge da, geizig, kaltherzig, selbstgerecht wie Charles Dickens’ vertrockneter Geschäftsmann im Weihnachtslied in Prosa. Europas selbst ernannter Modernisierer ließ sich also nicht einmal von den Ärmsten erweichen. Mandelsons »neuer Konsens« ist vorerst nur ein neuer Krach, und was für einer.
Der war gewollt, Tony Blair hat ihn gezielt gesucht. In dem Punkt hatte Juncker in seinem eiseskalten Frust schon Recht. (»Wer 27 Länder für eine komplette Neuausrichtung des Budgets einen will, der missachtet die Vergangenheit und will das Scheitern.«) Denn hätte der britische Premier in kompromissbereite Hände eingeschlagen, wir würden nie erfahren, wie ernst es Britanniens Premier mit seinem »Europa der Zukunft« wirklich meint, wie gemeinschaftsfähig er dieses jetzt auszuhandeln und auszugestalten denkt. Blairs Präsidentschaft wird eine »knifflige Angelegenheit«, heißt es in 10 Downing Street, der Premier müsse als fairer Schiedsrichter auftreten – und das ausgerechnet in einem Streit, bei dem die Briten mit dem ihnen bislang gewährten Rabatt handfeste Interessen verfolgen.
Lieber graue Zellen fördern anstatt grüne Weiden
Sechs Monate bleiben einem EU-Ratspräsident, nicht viel für ein Titanenwerk, wie es Blair ankündigt. Genau genommen hat er Zeit bis zum EU-Gipfel zur Weihnachtszeit. Hält er sich an Dickens, endet die Geschichte gut. Bekanntlich wird Scrooge (beim Anblick seines eigenen, wenig schmeichelhaften Grabsteins) bekehrt, aus einem boshaften Greis wird der Lieblingsopa aller lesenden Kinder. Um die vergrätzten Polen, Ungarn oder Slowaken wieder freundlicher zu stimmen, signalisierte Blair, dass Großbritannien in Zukunft mehr zu zahlen bereit sei und seinen Beitragsrabatt zur Disposition stelle – vorausgesetzt, der Haushalt wird insgesamt umgeschichtet. Der Teufel steckt hier allerdings in ungezählten Details, deren sich Blair erst noch anzunehmen hat.
So flimmert die Blairsche Vision einstweilen in der Sommerhitze. Zu vage bleibt sein Plädoyer für ein Budget, das nicht länger grüne Weiden, sondern graue Zellen fördern soll. Zu ungewiss ist zudem der Ausgang jener Partnersuche, die sein Intimus Mandelson annonciert. Blair hofft in Deutschland auf Angela Merkel, in Frankreich auf Nicolas Sarkozy. Die eine ist noch nicht gewählt, der andere muss auf seine Chance wohl bis zum Frühjahr 2007 warten – und dann mit dem Volk der Franzosen rechnen, das sich bei Wahlen schon manche Verrücktheit leistete.
Wer beim britischen Namenspoker ganz fehlt, sind die Mitteleuropäer. Vom polnischen Oppositionschef Jan Rokita bis zu seinem ungarischen Pendant Viktor Orbán träumen derzeit viele von einer Neuverteilung von Macht und Einfluss in Europa. »Das Zentrum der EU bewegt sich ostwärts«, sagte Orban kurz vor dem EU-Gipfel, »Märkte, Wachstum, politische Ideen.« Deutschland, Österreich, Tschechien, Ungarn, vor allem Polen sieht Orbán im künftigen Gravitationszentrum. Die Neuen sehnen sich darum nach dem Euro, »ohne den die Union zu einer Freihandelszone herabsinken würde«.
Den meisten Briten hingegen wird beim Gedanken, in Newcastle oder Plymouth ihr Pint in Euro zu zahlen, ganz anders zumute. Malte sich Blair sein Europa schön? Voraussagen sollte man unbedingt vermeiden, besonders solche über die Zukunft. Sagte Mark Twain. Wir stehen am Vorabend großer Ereignisse. Stammt von Napoleon. Blair hält es lieber mit dem Franzosen.
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arbeitslosigkeit
Von einem Flop zum nächsten
Ich-AGs und Minijobs verdrängen reguläre Arbeitsplätze: Die Hartz-Reformen sollten Beschäftigung schaffen – doch sie haben die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschärft
Von Ulrike Meyer-Timpe zeit 03.03.2005
Damals galt das Hartz-Konzept noch als Wunderwaffe. Im Herbst 2002 gewann die SPD mit der Prognose, die geplanten Reformen würden die Zahl der Arbeitslosen bis Ende 2005 auf zwei Millionen senken, die Bundestagswahl. Zehn Monate vor Ablauf der Frist ist das Ziel in weite Ferne gerückt. Im Februar waren über 5,2 Millionen Jobsuchende registriert, 575000 mehr als vor einem Jahr. Die Quote beträgt nun 12,6 Prozent.
Die »Jahrhundertreform« hat bislang offenbar keinen Erfolg gebracht. Hat sie die Lage auf dem Arbeitsmarkt womöglich gar verschärft?
Johann Eekhoff ist Professor an der Universität zu Köln und Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik. Seine Bilanz: »Die Arbeitsmarktreformen sind im Wesentlichen gescheitert – hätte die Regierung nur die Finger davon gelassen!« Viele der subventionierten Ich-AGs, lautet seine These, würden sich bald als Flop erweisen. Und ob Mini- oder Ein-Euro-Jobs: So finde kaum jemand wieder eine reguläre Stelle, mit der er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann.
Bereits 2003, im Rahmen von Hartz I, richteten die Arbeitsämter flächendeckend Personal-Service-Agenturen (PSA) ein. Die sind oft bei Zeitarbeitsfirmen angesiedelt, nehmen schwer vermittelbare Arbeitslose unter Vertrag und verleihen sie an Unternehmen. Bis Ende dieses Jahres sollten so 780000 Menschen Beschäftigung finden, Ende Januar 2005 waren es gerade mal 25000. »Klägliche Zahlen, angesichts der Erwartungen«, sagt Eekhoff. Weil ortsübliche Löhne zu zahlen sind, fordert die Wirtschaft die Leiharbeiter kaum an – und übernimmt sie noch seltener in feste Jobs. Der erhoffte »Klebeeffekt« blieb aus.
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Kein Wunder, dass von diesem angeblichen Herzstück der Hartz-Reform heute niemand mehr spricht.
In der Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg sind rund 1200 mittelständische Betriebe organisiert. Deren Hauptgeschäftsführer Wolf Burkhard Wenkel sagt: »Für uns sind die Hartz-Reformen völlig kontraproduktiv. Es ist unglaublich, was sich der Staat da leistet.« Besonders die Förderung der Ich-AG sei »im Baubereich total absurd«. Ein regulär beschäftigter Mitarbeiter kostet 25 bis 30 Euro pro Stunde. Verdingt er sich aber als Selbstständiger, so zahlt sein Chef nur noch 15 bis 20 Euro für ihn. Wie will man da verhindern, dass Ich-AGs Arbeitsplätze vernichten? »Es entsteht ein erheblicher ökonomischer Druck, Leute zu entlassen«, sagt Wenkel. »Die Stellen werden dann eins zu eins mit Scheinselbstständigen besetzt.« Anders sei man in der Krisenbranche dem Konkurrenzkampf kaum noch gewachsen.
arbeitslosigkeit
Von einem Flop zum nächsten
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TEIL 2
Genau das ist das Problem der aktiven Arbeitsmarktpolitik: dass der erste Arbeitsmarkt damit unter Druck gerät, deshalb Stellen gestrichen werden – und die Arbeitslosigkeit letztlich steigt.
Ähnlich negativ wie die Ich-AGs sieht Wenkel die Minijobs. Es sei inzwischen ein »gängiges Prinzip«, auf dem Bau mit geringfügig Beschäftigten zu arbeiten. Wenn der Zoll nach Schwarzarbeitern fahndet, erscheint das Arbeitsverhältnis legal. Wer will den Minijobbern ihre Stundenzahl nachweisen? Tatsächlich arbeiten viele von ihnen nicht 15 Stunden pro Woche, sondern Vollzeit und werden schwarz bezahlt. Klar, dass auf dem Bau die Zahl der regulären Arbeitskräfte immer weiter sinkt.
»Das Allerbeste wäre, wenn man die Ein-Euro-Jobs sofort streicht«
Gerade die Minijobs, vor knapp zwei Jahren unter dem Label Hartz II reformiert, werden von Rot-Grün als Erfolg gefeiert. Ihre Zahl ist bis Ende 2004 auf 7,3 Millionen explodiert, darunter nur 400000 in Privathaushalten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat jetzt die Zahlen analysiert. Das Ergebnis: Die Reform habe die Einnahmen der Sozialsysteme und des Finanzamts um etwa eine Milliarde Euro geschmälert. Doch es gebe »keine nennenswerte Reduzierung der Arbeitslosigkeit«. Vor allem Schüler und Studenten, Rentner und bisherige Hausfrauen sind geringfügig beschäftigt. Zudem nutzen viele die Mini-Konstruktion für einen Zweitjob – 840000 Menschen allein im ersten Jahr nach dem Start. Für Arbeitslose aber sind die Jobs nicht attraktiv, weil sie nur einen Bruchteil des Einkommens behalten dürfen.
© Zeit.de
Und die Ein-Euro-Jobs, die es seit Herbst gibt? »Wer auf die Schnapsidee gekommen ist, weiß ich nicht«, sagt Michael Fertig vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. »Das Allerbeste wäre, sie sofort zu streichen.« Zwar dürfen die Billiglöhner nur in gemeinnützigen Institutionen arbeiten, in denen es keine entsprechenden regulären Stellen gibt. Sie können also nicht darauf hoffen, übernommen zu werden. Doch sie gefährden mit ihren Dumpinglöhnen massiv offizielle Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft.
In Koblenz etwa, weiß der Volkswirt Stefan Sell, würden öffentliche Aufträge unter 10000 Euro nicht mehr ausgeschrieben. Ob es um die Renovierung von Kindergärten geht oder um das Pflanzen von Frühlingsblumen, all das erledigen jetzt Ein-Euro-Jobber. Und die Kleinbetriebe der Stadt entlassen bereits Mitarbeiter. Mittelfristig sieht der Professor von der Fachhochschule Koblenz, der früher selbst ein Arbeitsamt geleitet hat, noch rapide wachsende Probleme. Altenheimbetreiber etwa könnten vorsorglich weniger Personalkosten einplanen und dann Ein-Euro-Jobber für »zusätzliche« Tätigkeiten anfordern, die anders angeblich nicht zu leisten wären. »Es wird schleichende Verdrängungseffekte geben«, sagt Sell. »Der zweite Arbeitsmarkt wächst auf Kosten des ersten Arbeitsmarktes.«
Allen neuen Jobformen aus der Hartz-Schmiede, von der Ich-AG bis zum Ein-Euro-Job, ist gemeinsam: Sie katapultieren kurzfristig Arbeitslose aus der Statistik (auch wenn sie mittelfristig die Arbeitslosenzahlen steigen lassen). Und sie verstärken den Trend weg vom so genannten Normalarbeitsverhältnis, der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle, dessen Anteil ohnehin seit Jahren sinkt. Allein zwischen März 1992 und März 2004 schrumpfte die Zahl solcher Stellen um 3,5 Millionen auf nur noch 22,1 Millionen, also um fast 15 Prozent. Die Folge: Immer weniger regulär Beschäftigte müssen die Sozialsysteme finanzieren. Also steigen die Beiträge, reguläre Arbeit wird immer teurer – und deshalb zusehends durch andere Beschäftigungsformen ersetzt. Ein Teufelskreis. Sell: »Hartz ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik. Wir erleben die Angst der Politiker vor der letzten Konsequenz.«
Weil die Kosten explodieren, werden die Leistungen der Sozialsysteme beschnitten. Hartz IV etwa bietet Arbeitslosen nach einem Jahr nur noch ein Existenzminimum. Auch die Renten- und die Krankenversicherung werden in nicht allzu ferner Zukunft lediglich grundlegende Leistungen bieten können, wie es in anderen Ländern längst der Fall ist. Dort aber, etwa in Dänemark, wird die Grundsicherung größtenteils aus Steuern bezahlt.
Warum also nicht auch hier die Sozialsysteme über eine höhere Mehrwertsteuer statt über den Arbeitslohn bezahlen? Dann wäre jeder an der Finanzierung beteiligt, egal, ob er Angestellter oder Beamter, Selbstständiger oder Rentner ist. Entsprechend preiswerter wären offizielle Arbeitskräfte. Und reguläre Jobs würden wieder konkurrenzfähig.
qui tacet consentire videtur