kleinundgrün schrieb:Aber es illustriert in gewisser Weise das Problem der verzerrten Berichterstattung und lässt das Argument "weil mehr berichtet wird passiert auch mehr" noch weniger plausibel erscheinen
Das Problem bei der von Medien beeinflussten Realitätswahrnehmung, der "gefühlten" Sicherheit oder Unsicherheit ist ja nicht neu.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass, als die ersten italienischen "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen, die Boulevardpresse von "pokneifenden Italienern" und sizilianischen Taschendieben schrieb, dass sich "Deutsche Mädel" nicht mehr ohne männlichen Schutz auf die Strasse trauen konnten. Damals verboten Lokale, Freibäder, Diskotheken "südländisch aussehenden" Männern den Eintritt.
Ich erinnere mich noch an den Presse-Aufschrei in den Grenzgebieten, als der Zonen-Zaun verschwand und die "Klau-Ossis" angeblich ganze Trabant-Ladungen an Kosmetika, Süsswaren, Nylons und Erotikartikeln in Lübeck, Lauenburg etc. aus den Läden stahlen. Da konnte man das Gfühl haben, Dschingis Khans wilde Horden wären über den westdeutschen Einzelhandel mordend und brandschatzend, na ja, zumindest plündernd, hergefallen.
Danach musste man seine Rostlaube mit unter die Bettdecke nehmen, weil ja Polen jeden verfügbaren fahrbaren Untersatz entwendeten. Nie wurden mehr Lenkradkrallen und Alarmanlagen verkauft als um 1990 herum. Täglich wussten BILD & Co. von Geschichten zu erzählen, wie Autos an Ampeln, noch mit Kindern auf dem Rücksitz, gekidnapped wurden, nächtens strassenzugweise Räder abmontiert wurden etc. Da zitterte Otto Normalautofahrer Tag und Nacht um die Sicherheit seines Golfs.
Ach ja, Konkurrenz machten ihnen die Wodka-trunkenen Deutschrussen, Russendeutschen oder Russenrussen, die betrunken deutsche Frauen schändeten wie seit anno '45 nicht mehr. "Ein halbes Dutzend Russen vergewaltigten Schülerin" etc.
Manchmal muss man einfach nur lange genug leben, um sich zu erinnern. Oder mal Zeitungsarchive durchstöbern.
Faustregel: Wird über etwas nicht berichtet, dann gibt es das nicht. Wird über etwas berichtet, dann kommt das vor. Wird über etwas häufig oder andauernd berichtet, dann ist das eine Katastrophe. Die schreit zwar nach mehr und mehr hysterischen Follow-Ups, geht aber wieder vorbei, siehe oben, wenn ein neues Thema entdeckt wird. Mit irgendwas muss Kollege Lokalredakteur ja schliesslich den Raum zwischen den Anzeigen füllen.
Lange genug war ich in diesem Business.