Buchcollage
21.03.2013 um 09:30
Und da, vielleicht aber auch später, aus diesem Traum erwachend, begriff ich, daß es stimmte, daß es das Gesetz alles Lebendigen ist, daß jeder Organismus nichts anderes will als leben und sich fortpflanzen, ohne böse Absicht, die Tuberkelbakterien, die die Lungen von Pergolesi und Purcell, von Kafka und Tschechow zerfressen haben, hegten keinerlei Feindschaft gegen ihre Opfer, sie wollten ihren Wirten nichts Böses, aber es war das Gesetz ihres Überlebens und ihrer Entwicklung, ganz so, wie wir die Bakterien mit Medikamenten bekämpfen, die tagtäglich entwickelt werden, ohne Hass, zu unserem eigenen Überleben, und so ist unser ganzes Leben auf dem Mord an anderen Geschöpfen erbaut, die genauso gerne leben würden, die Tiere, die wir essen, die Pflanzen, die Insekten, die wir vernichten, egal, ob sie wirklich gefährlich sind wie die Skorpione und die Läuse oder nur störend wie die Fliegen, diese Plage der Menschheit, wer hat noch keine Fliege getötet, deren lästiges Summen ihn bei seiner Lektüre störte, das ist nicht grausam, sondern das Gesetz unseres Lebens, wir sind eben stärker als die anderen Lebewesen und verfügen nach Belieben über ihr Leben und ihren Tod, die Kühe, die Hühner, die Kornähren sind auf der Erde, um uns zu dienen, da ist es normal, daß wir untereinander genauso verfahren, daß jede Menschengruppe die anderen vernichten will, die ihr die Erde, das Wasser, die Luft streitig machen, was für einen Grund gäbe es also, einen Juden besser zu behandeln als eine Kuh oder eine Tuberkelbakterie, wo wir es doch können, und wenn der Jude es könnte, täte er dasselbe mit uns oder mit anderen, um sein eigenes Leben zu garantieren, das ist das gesetz aller Dinge, des ewigen Krieges aller gegen alle, und ich weiß, daß dieser Gedanke nicht im Mindesten originell, daß er fast ein Allgemeinplatz des biologischen oder sozialen Darwinismus ist, aber in dieser Nacht, unter dem Einfluß meines Fiebers, traf mich die Wucht dieser Wahrheit wie nie zuvor und nie danach, ausgelöst durch den Traum, in der die Menschheit der größeren Lebenskraft eines anderen Organismus erlag, und ich begriff natürlich, daß diese Regel für alle galt, daß andere, wenn sie sich als stärker erwiesen, mit uns so verfahren würden, wie wir mit unseren Mitgeschöpfen verfuhren, und daß gegen diese Kraft die schwachen Schutzmauern, die der Mensch in dem Versuch errichtet, das Zusammenleben zu regeln - Recht, Justiz, Moral, Ethik -, wenig ausrichten, daß der geringste Anflug von Furcht, ein etwas stärkerer Impuls sie beiseitefegt wie eine Mauer aus Stroh, daß aber auch die, die den ersten Schritt getan haben, nicht damit rechnen können, die anderen würden, wenn ihre Stunde gekommen ist, ihrerseits Recht und Gesetz achten, und ich hatte Angst, denn wir verloren den Krieg.
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
Berlin Verlag
S.1129