R. M. Douglas - Ordnungsgemäße ÜberführungRaymond Douglas ist Professor für Geschichte an der New Yorker Colgate University in Hamilton, vor 10 Jahren hat der Beck-Verlag die Übersetzung seines umfangreichen Werks über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten vorgelegt. Douglas ist es wichtig, das Thema sowohl Revisionisten zu entreißen, die diese Ereignisse mit dem Holocaust gleichsetzen möchten, wie auch einer Verniedlichung entgegenzuwirken. Die Ereignisse erschließt er aus nichtdeutschen Quellen bzw. verwendet er deutsche Quellen dann, wenn ein zweiter Beleg aus nichtdeutschen Quellen eine Bestätigung erbringen.
Den Bogen spannt er etwas weiter und beginnt bereits mit den Wilson'schen Vorstellungen am Ende des Ersten Weltkriegs, dass ethnische Konflikte in Europa durch Grenzverschiebungen entschärft werden könnten, was sich in der Realität als wenig zielführend erwiesen hat. Daraus ergab sich nicht, dass die Politik wieder auf das Konzept von Vielvölkerstaaten zurückgegriffen hat, sondern immer mehr wurde das Konzept ethnisch "reiner" Staaten durch Umsiedlungen als brauchbares Konzept von faschistischen, kommunistischen und demokratischen Mächten angesehen.
Die erste Vertreibungsaktion Deutschsprachiger war die "Heim ins Reich"-Kampagne Hitlers von 1939 bis 1941. Deutschbalten wurden aus den im Zuge des Pakts mit Stalin der Sowjetunion zugewiesenen baltischen Staatsgebiete vertrieben und ins Wartheland verfrachtet, wo sie polnische Höfe besiedeln sollten. Dies führte zu einem Chaos. Viele städtische Deutschbalten konnten mit Bauernhöfen nichts anfangen, bäuerliche Deutschbalten konnten mit der Kleinheit und geringen Ausstattung der Höfe nichts anfangen. Viele wurden für längere Zeit in Lager gepfercht, lokale Politiker wehrten sich gegen eine weitere Aufnahme. Die im Warthegau lebenden Polen sollten im Generalgouvernement Polen jüdischen Wohnraum übernehmen, doch auch das führte nur zu Chaos und schließlich zum ersten logistisch organisierten Massenmord, der Aktion Reinhardt. Für viele Deutschbalten wurde der Slogan "Heim ins Reich" zum Schrecken. Gleiches wurde mit der "Optionslösung" in Südtirol versucht: Südtiroler sollten im bergigen Südschlesien angesiedelt, Südtirol selbst italienisiert werden. Ergo: Hitler hat den Lebensraum von Deutschsprachigen nicht vergrößert, sondern verkleinert.
Auch die demokratischen alliierten Mächte blieben bei diesem Konzept. Stalin bestand darauf, die von der Sowjetunion während der gemeinsamen Überfälle mit Hitlerdeutschland eroberten Gebiete zu behalten, Polen aus den ostpolnischen Gebieten, die der Sowjetunion zufallen, zu vertreiben und nach Westen umzusiedeln. So wurde 1945 bei der Potsdamer Konferenz beschlossen, Deutsche aus Polen östlich der Oder-Neiße-Linie, aus dem Sudetenland und aus Ungarn in das von den vier alliierten Mächten besetzte Deutschland umzusiedeln. Dies solle, wie es im Beschluss hieß, "geordnet und human" stattfinden. Mehr als ein frommer Wunsch war das nicht.
1945 waren die alliierten Mächte logistisch nicht soweit. Sie konnten weder einen humanen Transport organisieren noch Wohnraum in einem zerbombten Deutschland zur Verfügung stellen. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, aber auch Jugoslawien vertrieben ihre deutschsprachige Bevölkerung eigenhändig, Douglas nennt sie "wilde Vertreibungen". Deutschsprachige wurden in Lager gepfercht, ausgehungert, in Viehwagen gesteckt und oft tage- oder wochenlang auf Fahrt geschickt. Familien wurden zerrissen, da arbeitsfähige Männer oft zurückgehalten wurden. Die Sterberate war sehr, sehr hoch. Dazu versuchten die alliierten Grenzposten, Vertriebenenzüge an der deutschen Grenze zurückzuweisen.
Aber auch die durch die Alliierten auf Basis der Potsdamer Beschlüsse ab 1946 organisierten Vertreibungen waren kaum geordneter. Noch immer kamen hauptsächlich Frauen, Kinder, alte Menschen an, weiterhin waren sie Hunger und Gewalt ausgesetzt, weiterhin war die Sterberate unter Kindern und Alten unfassbar hoch. Noch immer war Wohnraum kaum vorhanden, Vertriebene wurden weiterhin in Lager gesteckt (in der Bundesrepublik wurde das letzte Aufnahmelager 1971 geschlossen, das ehemalige KZ Dachau diente bis 1965 als Aufnahmelager). In der sowjetischen Zone Deutschlands wurde in Brandenburg ein Bauprogramm mit kleinen Höfen initiiert. Folge: diese Höfe wollte nur eine Minderheit der Ankommenden und in den Städten fehlten Bauarbeiter zur Wiederherstellung kriegszerstörten Wohnraums. 1947 stoppten die Alliierten die Aktion, nachdem bereits wohl mehr als 10 Millionen Deutsche bzw. Deutschsprachige vertrieben waren.
Am Ende wird ein Ausblick in die Gegenwart geboten und darauf hingewiesen, dass in den 1990er und 2000er Jahren nach wie vor ethnische Vertreibungen stattgefunden haben, die manchmal mehr (Bosniaken aus Bosnien) und manchmal weniger (Serben aus dem Kosovo) Protest hervorgerufen haben, obwohl sie nach aktuellem Völkerrecht samt und sonders nicht mehr erlaubt sind. Außerdem weist Douglas nach, dass selbst im Lissaboner Vertrag der EU ethnische Umsiedlungen in einem nicht näher bezeichneten Notfall rechtens seien, obwohl das Völkerrecht nur mehr Evakuierungen zum Schutz einer Bevölkerung vor einer lebensbedrohlichen Gefahr als legal sehe.
Die würdigende Rezension des Buchs durch den Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann auf
H-Soz-Kult bringt einige interessante Fallbeispiele aus diesem Buch.