Der Fall Mary Bell
25.12.2012 um 13:50Der Fall Mary Bell und die neue Politik der Härte gegen das Verbrechen
Jagd auf das Böse
Am 25. Mai 1968 wird der vierjährige Martin Brown tot aufgefunden. Er liegt in einem verlassenen Haus in Scotswood, einem heruntergekommenen Sozialwohnungsviertel drei Meilen außerhalb des Stadtzentrums von Newcastle an der Tyne. Zunächst glaubt die Polizei an einen Unfall. Doch neun Wochen später findet sie ein zweites Kind, den dreijährigen Brian Howe, erwürgt im nahen Brachland.
Die Polizei nimmt die elfjährige Mary Bell und die dreizehnjährige - nicht mit ihr verwandte - Norma Bell unter Tatverdacht fest. Im Dezember stehen die Mädchen vor einem Schwurgericht. Mary Bell wird wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht des Mordes, sondern des zweifachen Totschlags für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Richter erklärt, der Fall solle "von Zeit zu Zeit neu erwogen" werden, Mary Bell müsse die Strafe nicht vollständig absitzen. Sie könne entlassen werden, "falls damit kein Sicherheitsrisiko verbunden ist". Norma Bell wird freigesprochen. Sie war beim ersten Mord nicht dabei und spielte beim zweiten nach Überzeugung der Jury nur eine passive Rolle.
Der sensationelle Doppelmord beschäftigt die Zeitungen, doch das Interesse hält sich in Grenzen. Großbritannien ist ein Land, in dem die Gentlemen von der Presse sich wie Gentlemen benehmen. Es ist ein Land, in dem man noch Somerset Maugham liest: "Es gibt keine Erklärung für das Böse. Es ist wohl ein notwendiger Bestandteil in der Ordnung der Dinge. Es zu ignorieren ist kindisch, es zu beklagen sinnlos."
Dreißig Jahre später beschäftigt der Fall erneut die Öffentlichkeit. Am 29. April 1998 beginnt die Times mit dem Vorabdruck eines Buches über die Täterin Mary Bell. Der Titel: "Cries Unheard", Schreie, die keiner hört. Die Autorin, die 73jährige Gitta Sereny, ist eine angesehene Journalistin. Sie hat sich durch Biographien Albert Speers und Franz Stangls, des KZ-Kommandanten von Treblinka, einen Namen gemacht. Ihr neues Buch sei eine "Herausforderung an unsere Bereitschaft, unsere Verantwortung für traumatisierte Kinder wahrzunehmen", steht im Einband, und ein "Aufruf, unser Strafrechtssystem für Kinder zu überdenken".
Der Vorabdruck hat in der vergangenen Woche einen bizarren Skandal ausgelöst. Vor allem deshalb, weil Gitta Sereny die heute 41jährige Mary Bell für ihre Mitarbeit bezahlte. Über einen Zeitraum von fünf Monaten hatte sie immer wieder stundenlange Interviews mit ihr geführt. "Verbrechen darf sich nicht lohnen", johlt die Boulevardpresse. Premier Tony Blair nennt das Honorar - es soll sich um 15 000 Pfund handeln, umgerechnet 45 000 Mark - einen "Affront gegen die menschliche Natur". Er redet darüber, derartige Zahlungen an "bestimmte Straftäter" per Gesetz zu unterbinden. Parlamentarier der Labourpartei plädieren für ein Verbot des Buches.
Das Buch ist ein Frontalangriff auf den in Europa umgehenden Trend zu einer härteren Gangart gegen delinquente Kinder und Jugendliche. Es ist ein Dokument, das sich mit den innersten Triebkräften der Kriminalität beschäftigt. Es rührt an eine - von einer schamlosen Boulevardpresse verstärkte - Tendenz der Gesellschaft, ihre Ängste und ihren Zorn auf Individuen zu projizieren, auf öffentliche Inbilder alles Bösen.
Und es ist in sich selbst ein Dokument der moralischen Zwiespältigkeit. Seit Tagen steht deshalb die Autorin öffentlich unter Beschuß, und Mary Bell ist dreißig Jahre nach der Tat, achtzehn Jahre nach der Haftentlassung - auf der Flucht vor einer Öffentlichkeit, die sie bis zum Tode büßen sehen will. Ihr Leben soll hier erzählt werden, und zwar so, wie Gitta Sereny es darstellt. Denn die Autorin selbst ist inzwischen ein Teil dieser verwobenen Geschichte geworden.
http://www.zeit.de/1998/21/marybell.txt.19980514.xml
Jagd auf das Böse
Am 25. Mai 1968 wird der vierjährige Martin Brown tot aufgefunden. Er liegt in einem verlassenen Haus in Scotswood, einem heruntergekommenen Sozialwohnungsviertel drei Meilen außerhalb des Stadtzentrums von Newcastle an der Tyne. Zunächst glaubt die Polizei an einen Unfall. Doch neun Wochen später findet sie ein zweites Kind, den dreijährigen Brian Howe, erwürgt im nahen Brachland.
Die Polizei nimmt die elfjährige Mary Bell und die dreizehnjährige - nicht mit ihr verwandte - Norma Bell unter Tatverdacht fest. Im Dezember stehen die Mädchen vor einem Schwurgericht. Mary Bell wird wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht des Mordes, sondern des zweifachen Totschlags für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Richter erklärt, der Fall solle "von Zeit zu Zeit neu erwogen" werden, Mary Bell müsse die Strafe nicht vollständig absitzen. Sie könne entlassen werden, "falls damit kein Sicherheitsrisiko verbunden ist". Norma Bell wird freigesprochen. Sie war beim ersten Mord nicht dabei und spielte beim zweiten nach Überzeugung der Jury nur eine passive Rolle.
Der sensationelle Doppelmord beschäftigt die Zeitungen, doch das Interesse hält sich in Grenzen. Großbritannien ist ein Land, in dem die Gentlemen von der Presse sich wie Gentlemen benehmen. Es ist ein Land, in dem man noch Somerset Maugham liest: "Es gibt keine Erklärung für das Böse. Es ist wohl ein notwendiger Bestandteil in der Ordnung der Dinge. Es zu ignorieren ist kindisch, es zu beklagen sinnlos."
Dreißig Jahre später beschäftigt der Fall erneut die Öffentlichkeit. Am 29. April 1998 beginnt die Times mit dem Vorabdruck eines Buches über die Täterin Mary Bell. Der Titel: "Cries Unheard", Schreie, die keiner hört. Die Autorin, die 73jährige Gitta Sereny, ist eine angesehene Journalistin. Sie hat sich durch Biographien Albert Speers und Franz Stangls, des KZ-Kommandanten von Treblinka, einen Namen gemacht. Ihr neues Buch sei eine "Herausforderung an unsere Bereitschaft, unsere Verantwortung für traumatisierte Kinder wahrzunehmen", steht im Einband, und ein "Aufruf, unser Strafrechtssystem für Kinder zu überdenken".
Der Vorabdruck hat in der vergangenen Woche einen bizarren Skandal ausgelöst. Vor allem deshalb, weil Gitta Sereny die heute 41jährige Mary Bell für ihre Mitarbeit bezahlte. Über einen Zeitraum von fünf Monaten hatte sie immer wieder stundenlange Interviews mit ihr geführt. "Verbrechen darf sich nicht lohnen", johlt die Boulevardpresse. Premier Tony Blair nennt das Honorar - es soll sich um 15 000 Pfund handeln, umgerechnet 45 000 Mark - einen "Affront gegen die menschliche Natur". Er redet darüber, derartige Zahlungen an "bestimmte Straftäter" per Gesetz zu unterbinden. Parlamentarier der Labourpartei plädieren für ein Verbot des Buches.
Das Buch ist ein Frontalangriff auf den in Europa umgehenden Trend zu einer härteren Gangart gegen delinquente Kinder und Jugendliche. Es ist ein Dokument, das sich mit den innersten Triebkräften der Kriminalität beschäftigt. Es rührt an eine - von einer schamlosen Boulevardpresse verstärkte - Tendenz der Gesellschaft, ihre Ängste und ihren Zorn auf Individuen zu projizieren, auf öffentliche Inbilder alles Bösen.
Und es ist in sich selbst ein Dokument der moralischen Zwiespältigkeit. Seit Tagen steht deshalb die Autorin öffentlich unter Beschuß, und Mary Bell ist dreißig Jahre nach der Tat, achtzehn Jahre nach der Haftentlassung - auf der Flucht vor einer Öffentlichkeit, die sie bis zum Tode büßen sehen will. Ihr Leben soll hier erzählt werden, und zwar so, wie Gitta Sereny es darstellt. Denn die Autorin selbst ist inzwischen ein Teil dieser verwobenen Geschichte geworden.
http://www.zeit.de/1998/21/marybell.txt.19980514.xml