TV-Kritik Anne Will
Im Schutz der Akten
30.01.2014 · Vier Juristen und Harry Wörz, der Mann, der unschuldig im Gefängnis saß: Bei Anne Will bleiben viele Fragen offen. Eine nicht: Recht ist nicht unbedingt Gerechtigkeit.
Harry Wörz (Januar 2014)
Der Spielfilm, der seine Geschichte erzählt, war kaum zu Ende, das saß der echte Harry Wörz bei Anne Will im Studio: Der Mann, der 1998 zu elf Jahren Haft wegen versuchten Totschlags verurteilt wurde, weil er seine getrennt von ihm lebende Frau stranguliert haben soll. Der gut viereinhalb Jahre hinter Gittern verbrachte, unschuldig, wie er immer beteuerte, bis ein Gericht ihn dreizehn Jahre und zahlreiche Prozesse nach dem ersten Urteil freisprach – und der „Fall Wörz“ zum Beispiel für einen beispiellosen Justizirrtum wurde.
Um Justizirrtümer und darum, was man gegen sie tun kann, sollte es in der Talkrunde gehen, zu der immerhin die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) und Wolfgang Bosbach (CDU), der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, gehörten. Doch die meisten Zuschauer, die nach dem Film „Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“ vor dem Fernseher sitzen geblieben sind, werden vor allem Harry Wörz selbst haben wollen. Denn ohne ein persönliches Schicksal vor Augen wäre das, was da bei Anne Will verhandelt wurde, vor allem eines gewesen: etwas für juristische Feinschmecker. Oder für Menschen mit Sinn fürs Spekulative.
Die magische Fünfundzwanzig
So saß denn Harry Wörz, die prall gefüllten Mappe mit seinen wichtigsten Prozessakten auf dem Schoß, zeitweise schweigend zwischen lauter Juristen die mit der Zahl Fünfundzwanzig jonglierten, als hinge das Heil von ihr ab: Enden tatsächlich, wie es heißt, fünfundzwanzig Prozent aller deutschen Strafprozesse mit Fehlurteilen? Keiner wusste es zu sagen, wie denn auch. Das Bauchgefühl von Heinrich Gehrke, ehemals Vorsitzender Richter am Landgericht Frankfurter, sagte: Es sind viel weniger. Das von Ralf Neuhaus, Wörz’ Strafverteidiger: Könnte stimmen. Und sind fünfundzwanzig Euro Entschädigung für jeden Tag zu Unrecht abgesessener Haft angemessen? Alle wussten: nein. Wie es mehr werden könnte, blieb dagegen unklar.
Herta Däubler-Gmelin erinnerte daran, dass Gefängnisse Ländersache seien und die Länder nicht gerne höhere Zahlungen leisteten, Bosbach daran, dass die Neukodifizierung des Staatshaftungsrechts im Koalitionsvertrag stehe, sich also etwas tun könne in Sachen Entschädigung. Dann drohte die Diskussion in Begriffe wie preußisches Landrecht, Beweis des Anscheins und Nichtvermögensschaden zu zerfasern.
Fragen an den, um den es ging
In solchen Momenten tat Anne Will gut daran, dem Mann Fragen zu stellen, um den es vor allem ging. Und holte den gelernten Installateur Harry Wörz ohne falsche Überempathie ins Gespräch zurück. Wenn er redete, wurde nicht so sehr die lange Kette der Justizversagen sichtbar, aus der sein Fall besteht – selbst wenn er Beispiele von vertauschten Akten und verschwundenen Beweisstücken herbeizitierte – sondern vor allem der große innere Druck, unter dem er immer noch steht. Womit er heute seine Tage verbringe, fragte ihn Anne Will. Er wälze Akten, sagte Wörz. Die Akten seien seine Schutzhülle. Er berichtete von Depressionen, Schlafstörungen und von seinem Kampf um die Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit. Die Beweislast in dieser Sache liegt bei ihm.
Auf Fehler zu reagieren ist immer einfacher, als welche zu vermeiden oder gar unentdeckte auszumachen. Da war es nur folgerichtig, dass sich das Gros der Diskussion um Fragen der Wiedergutmachung drehte. Wer wollte nicht, dass Justizopfer Hilfe bei der Rückkehr ins normale Leben erhalten, wie sie mit Bewährungshelfern für entlassene Strafgefangene selbstverständlich ist? Wer nicht, dass der Entschädigungssatz für Hafttage hundert Euro oder mehr betragen möge, die Beweislast in der Erwerbsunfähigkeitsfrage umgekehrt werde und auch weitere Schäden, die durch Eingriffe ins Persönlichkeitsrecht entstanden sind, angemessen abgegolten werden? Hier können sich allerlei Gesetze denken lassen, und es war Zeit für schöne Worte wie die von Bosbach: „Das alles kostet viel Geld, aber das muss dem Rechtsstaat die Gerechtigkeit wert sein.“
Verblüffender waren die ungelösten Fragen. Zum Beispiel: Wie kommt es überhaupt zu solch gravierenden Justizfehlern? Die Ideensammlung anhand des Falles Wörz ergab: Wenn die Polizei zu früh nur noch in eine Richtung ermittelt und die Staatsanwaltschaft nicht korrigierend eingreift. Wenn Richter mehr auf Staatsanwälte, als auf Verteidiger. Wenn wichtige Aussagen in Seitenakten verschwinden. Wie denn da Kontrollmechanismen einzuziehen seien, wollte Anne Will immer wieder wissen. Rechte Antworten gab es nicht. Herta Däubler-Gmelin machte sich für Videoaufzeichnungen von Verhören stark, was Gehrke als mutmaßlich zu teuer abkanzelte, und Bosbach argumentierte, letztlich sei der Irrtum eine menschliche Verhaltensweise, die sich nicht per Gesetz abschaffen lasse.
Was ist überhaupt ein Fehlurteil?
Das aber führte zum eigentlichen Punkt. Denn: Was ist überhaupt ein Justizirrtum? Wenn ein Unschuldiger verurteilt und ein Schuldiger freigesprochen wird, möchte man meinen. Doch so ist es natürlich nicht. Man nehme das Beispiel dieses Mann, der sein kleines Kind erschlug und einen Autounfall fingierte, um die Tat zu vertuschen. Als er nach einer Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung freikam, sagte er die Wahrheit und konnte nicht neu belangt werden. „Hatte das Gericht ein Fehlurteil gefällt?“, fragte Bosbach und meinte: nicht unbedingt. Denn für Juristen ist die Frage, ob das Gericht den Sachverhalt, wie er sich ihm darstellte, angemessen gewürdigt hat. Recht ist nicht unbedingt Gerechtigkeit. Gehrke wagte als advocatus diaboli auszusprechen: „Unser Rechtssystem geht oft zu Lasten der Gerechtigkeit. Aber das ist nicht zu ändern.“
Harry Wörz hielt sich an seinen Akten fest. So recht geeignet, das Vertrauen in die inneren Kontrollmechanismen der Justiz zu stärken, war die Runde jedenfalls nicht. Was er sich wünsche, wurde Wörz gefragt. Die Wiedergutmachung, die ihm zustehe, sagte er, und dass der Staat den wahren Täter finde. Aber der Prozess sei ja abgeschlossen. Dann sagte er noch: „Frieden.“
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