Das Video ist ja ganz nett, aber es lässt entscheidende Dinge einfach weg. Die Darstellung der Staatsanwaltschaft, ich nenne sie mal die 2. Version - denn die ersten Ermitlungen gingen ja klar von Suizid aus - ruhten vor allem auf drei Details, die schliesslich auch zur Verurteilung führten:
1. Die nachträgliche Erweiterung des Zeitraums, in welchem der Tod stattfand auf den Nachmittag
2. Die Knoten, die so speziell gewesen sein sollten, dass das Opfer sie niemals hätte binden können
3. Die "Tatsache," dass das Seil zu kurz gewesen sein soll. Im Video wird gezeigt, dass bei der Tatortnachstellung die Testperson, auf dem Stuhl stehend, nicht in der Lage gewesen sein soll, die Schlinge über den Kopf zu ziehen.
In der Berufungsverhandlung, die den gesamten Fall neu aufrollte (nicht zu verwechseln mit einer Revision, die nur nach juristischen Verfahrensfehlern schaut) wurden aber genau diese drei Kern"beweise" in Frage gestellt.
Mich erinnert dieser Fall an einige, die ich selbst verteidigt habe und vor allem auch an den Fall Genditzki, der derzeit in Deutschland in der Diskussion ist.
Unbestritten ist erst einmal, dass der Ehemann anscheinend kein sonderlich liebenswerter Mensch gewesen sein soll. Allerdings, und das reflektiert sogar die Anzeige des Bruders, das bedeutet nicht, dass er ein Mörder ist. Der Bruder hatte damals die Anzeige so gestaltet, dass er sagte: entweder habe der Ehemann sie umgebracht oder zum Selbstmord getrieben.
Beides ist in diesem Fall nachvollziehbar und das ist das Problem hier. So spricht sein Verhalten vor der Tat und vieles durchaus dafür, dass das Opfer mit dieser Situation nicht weitermachen wollte. Deshalb hatte sie nun zum dritten Mal die Scheidung eingereicht. Zweimal allerdings hatte sie vorher schon aufgegeben, warum ist nicht ganz klar, aber vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, es werde sich eh nichts ändern? Ihre Familie weist später diese Theorie zurück, hat aber offensichtlich zur Zeit ihrer Anzeige diese Theorie in Betracht gezogen.
Nun zu den drei Punkten.
1. Die zweite Todeszeitpunktermittlung hatte ein Problem: die Leiche stand längst nicht mehr zur Verfügung. Der zweite Gerichtsmediziner hatte nur die Fotos zur Verfügung, und kam doch zu einem ganz anderen Ergebnis als der erste, der am Tatort zugegen war und die Leiche selbst untersucht hatte. Wenn man dann auch noch weiss, dass die Ermittlung des Todeszeitpunktes immer nur eine Schätzung ist, was Gerichtsmediziner ja durchaus zugeben (man findet dazu genug Quellen auf google), wird man vorsichtig, wenn im Nachhinein auf einmal ein anderes Ergebnis verkündet wird, ohne dass die Leiche selbst noch einmal untersucht werden konnte.
2. Der Seemannsknoten und der Krawattenknoten. Nach Auffassung der Anklage waren diese so speziell, dass das Opfer diese nicht gemacht haben konnte. Während der Berufungsverhandlung war es dann aber wohl so, dass eine Zeugin ohne jede Erfahrung in weniger als zwei Minuten in der Lage war, solche Knoten zu binden. Damit verlor dieses Indiz seine Überzeugungskraft
3. Entscheidend aber war ein relativ logischer Schluss zum dritten Punkt. Laut Tatortnachstellung soll also nicht möglich gewesen sein, auf dem Stuhl stehend, sich die Schlinge um den Hals zu legen, weil das Seil dazu zu kurz gewesen sein soll. In der Berufungsverhandlung wies die Verteidigung dann auf etwas naheliegendes hin: Die Tote wurde so gefunden, wie es die Tatortfotos belegten: mit einem Fuss auf dem Boden stehend, einem Fuss auf dem Stuhl, und eben genau an diesem Seil hängend. Der Verteidiger fragte: wenn das Seil zu kurz gewesen sein soll, um auf dem Stuhl stehend um den Hals zu passen, wie kann es dann lang genug gewesen sein, so dass sie den Boden berühren konnte?
In der Tat sind mir solche Dinge schon begegnet, es gab einige Fälle, in welchen die Ermittler Fehler machten, als sie das Seil abschnitten. In diesem Fall, das kommt im Video nicht vor, gab es wohl eine erhebliche Auseinandersetzung um die genaue Position des Seiles, es gab "Abriebspuren" am Balken, welche diese belegen sollten usw.
Das Berufungsgericht entschied daraufhin auf Freispruch, da es von der Schuld des Angeklagten nicht überzeugt war. Das ist für mich durchaus nachvollziehbar, auch wenn ich zugebe, dass viele Indizien auch für einen Mord sprechen könnten. Allerdings finde ich es schon bedeutend, dass sowohl der Gerichtsmediziner als auch die am Tatort ermittelnden Beamten zunächst von einem Suizid ausgingen.
Meine Quellen sind alle auf Französisch:
https://www.telescoop.tv/2018/09/02/2650125/2650125_11_Faites-entrer-laccuse.html(28 Seiten mit sehr interessanten Einblicken auch in die Berufungsverhandlung)
https://toulon.maville.com/actu/actudet_--Faux-suicide-vingt-ans-pour-le-prof-de-maths-de-Sanary-_-1122800_actu.Htm