Es gibt ein Leben ohne Ausweis
Von Rainer Bonhorst
Meine Kollegin Jasmin Fischer hat neulich über die Gardenparty der Queen berichtet und dabei eine englische Merkwürdigkeit erwähnt. Sie musste sich, um reinzukommen, mit ihrer Stromrechnung ausweisen, weil die Briten keinen Personalausweis kennen. Ja geht denn das? Ein Leben ohne Personalausweis oder, auf Französisch, ohne carte d’identité?
Was für Kontinentaleuropäer unvorstellbar, ja geradezu ein Ausdruck staatsferner Wildheit ist, ist in England Alltag. In Amerika auch.
In der angelsächsischen Tradition gilt der Personalausweis als bürgerfeindliches Instrument polizeistaatlicher Überwachung. Darum wehren sich die Briten seit Langem erfolgreich gegen dieses „obszöne Dokument“, wie vor vielen Jahren, zu meiner Londoner Korrespondentenzeit, ein Labour-Abgeordneter ein solches Papier mal nannte.
In den USA gibt es keinen Druck aus Brüssel, die Einführung eines Personalausweises ist dort überhaupt kein Thema. Das Gleiche gilt für die behördliche Meldepflicht. In England und Amerika ist für die eigenen Bürger so etwas undenkbar.
Kürzlich war ich länger in England. Da habe ich mich nicht mit einer Stromrechnung, wie Jasmin Fischer, sondern mit einer Telefonrechnung ausgewiesen. Warum diese Rechnungen? Weil sie als wenigstens halboffizielle Dokumente belegen, dass man auch wirklich dort wohnt, wo man behauptet zu wohnen. Also irgendwie muss man sich auch in diesen Uraltdemokratien ausweisen, sosehr man dort die identity card verabscheut.
Es geht sogar ohne Kässpatzen
In den USA tut’s bekanntlich der Führerschein. Den haben nicht alle, aber die allermeisten Amerikaner. Und er ist, anders als der deutsche, nicht erst nach teurem Intensivstudium und abschließender Verkehrsdoktorarbeit zu haben. Dort schaffen ihn auch einfache Menschen mit wenig Geld. Allerdings kommen Amerikaner auch nicht in die Verlegenheit, mit über 200 Stundenkilometer über die Autobahn zu rasen oder einem solchen Raser im Schockzustand Platz machen zu müssen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Warum erzähle ich von der Abneigung der Angelsachsen gegen unseren computerlesbaren Personalausweis mit biometrischem Foto? Nur um mal wieder daran zu erinnern, dass man auch ein bisschen anders leben und denken kann als wir Deutschen. Es gibt, so unglaublich es scheint, ein Leben ohne Kässpatzen. Es gibt ein Leben ohne alsbaldigen Atomausstieg. Und es gibt ein Leben ohne Personalausweis. Der Ordnung halber will ich aber sagen: Bei uns in Deutschland lässt es sich recht gut leben. Zum Beispiel muss man nie seine Telefonrechnung mit sich tragen.
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