@siri76 @Nummer33 siri76 schrieb:Gibt es im deutschen Rechtssystem denn die Möglichkeit, eine Aussage zu machen (nicht anonym, aber schriftlich bei der Befragung durch die Beamten), und diese Aussage würde dann bei Gericht unter Nichtnennung des Namens verlesen? Ich schätze nicht, da der Zeuge dann keine Fragen beantworten könnte?
Genau das ist das Problem. Anonyme Zeugen gab es in der Geschichte durchaus und mit fatalen Folgen für das Justizsystem. In jenen Zeiten, wo man im Prinzip seine Unschuld beweisen musste, gab es auch Zeugen, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und nach ihrer Aussage wieder verschwanden. Kein Wunder, dass die Aussage immer zuungunsten des Angeklagten verlief.
Im 18. Jahrhundert hat man dann als grosse Errungenschaft gefeiert, dass z.B. in der amerikanischen Verfassung die Möglichkeit, einen Zeugen der Anklage vernehmen zu können, als Grundrecht verankert wurde.
6th amendment of the Constitution of the United States of America:
In all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right to a speedy and public trial, by an impartial jury of the State and district wherein the crime shall have been committed; which district shall have been previously ascertained by law, and to be informed of the nature and cause of the accusation; to be confronted with the witnesses against him; to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor, and to have the assistance of counsel for his defence.
Man stelle sich jetzt einmal den Fall vor, dass in Deutschland ein Zeuge komplett anonym aussagen kann.
Beispiel: Theodor ist schon seit der Zeit seines Studiums, er studierte 34 Semester lang Politologie, ein kleiner Revoluzzer. Es gibt keine Ungerechtigkeit in der Welt, gegen die er nicht lautstark vorgeht, vorzugsweise indem er sie in Grafittis in seiner Nachbarschaft dokumentiert. Die gefühlten Bösewichter bekommen auch mal seinen gerechten Zorn zu spüren, so wie damals als der Dienstwagen eines Ministers mit Jauche übergossen wurde. Schon 30 mal wurde er verhaftet, aber bisher ist er nur zweimal wegen Sachbeschädigung verurteilt worden. In allen anderen Fällen konnte die Polizei keine Zeugen auftreiben und die an den Tatorten gefundenen Spuren reichten nicht aus, um ihn zu überführen.
Nun steht Theodor vor Gericht. Diesmal ist es ernst. Er soll das Wahlkampfbüro der im Bundesland G seit Menschengedenken regierenden Partei angezündet haben, ausgerechnet eine Woche vor der Bundestagswahl. 100,000 Plakate, Kugelschreiber und Ansteckbuttons mit dem Gesicht der Spitzenkandidatin verbrannten.
Theodor macht keine Aussage. Die Tatzeit, ein Sonntagmorgen gegen 4 Uhr hat bisher keine Zeugen hervorgebracht, die Altstadt seiner kleinen Gemeinde ist um diese Zeit ausgestorben. Theodor war eh nicht in der Stadt, er schlief zu Hause einen kleinen Rausch aus. Nachdem er die letzten Prognosen für die Wahl im Fernsehen gesehen hatte, aus denen hervorging, dass es diesmal vielleicht einen Regierungswechsel geben könnte, hatte er gleich zwei Flaschen Rotwein (organisch und fair gehandelt) ausgetrunken.
Um so erstaunter sind Theodor und sein Verteidiger, als plötzlich ein Augenzeuge vor Gericht aussagt. Dieser will gesehen haben, dass Theodor das Fenster des Wahlkampfbüros eingeschlagen und einen Brandsatz in das Büro geworfen hat. Ausserdem sagt der Zeuge aus, dass Theodor dabei die rechte Hand zur Faust erhob und lautstark die Solidarität aller Völker verkündete, bevor er vom Tatort weglief.
Theodor kann es gar nicht glauben, aber es kommt noch schlimmer. Als der Verteidiger den Zeugen fragt, wieso der eigentlich zur Tatzeit am Tatort war, sagt dieser er kam gerade von der Arbeit. Was das denn für ein job sei? Wo sei die Arbeitsstelle? Wo sei die Wohnung? Wie oft gehe der Zeuge denn dort so lang, in der Woche? Und so weiter. Auf all diese Fragen bekommt der Anwalt keine Antwort.
Der Richter sagt, der Zeuge habe Angst. Wenn Theodor erfahre, wer er sei, dann würde sicherlich seine Wohnung als nächste brennen. Selbst wenn Theodor verurteilt würde, seine revolutionären Freunde, die er sicher habe, würden dann den armen Zeugen meucheln.
...
Theodor wird verurteilt. Wie die meisten sich gedacht haben, gibt es keinen job in der Altstadt, von dem man genau um diese Zeit am Tatort vorbeikommen würde. Usw.
Anonyme Zeugen könnten jederzeit genau die Aussagen bringen, die der Staatsanwalt dringend braucht um eine Verurteilung zu erreichen. Wenn die Verteidigung die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht mehr angreifen kann, ist dem Missbrauch Tor und Tür geöffnet.
Aus den Erfahrungen der Geschichte heraus hat man in Deutschland beschlossen, dass Zeugen immer von der Verteidigung überprüft werden können, und dazu gehört ihren Namen zu erfahren, um dann auch die Hintergründe, usw. des Zeugen durchleuchten zu können.