Der mysteriöse Tod des Jens Henrik Bleck
24.10.2016 um 22:36
Quelle: General-Anzeiger Bonn: 24.10.2016 (Rhein & Sieg), Seite 4
DER FALL JENS BLECK 17 Seiten umfasst die Stellungnahme
des nordrhein-westfälischen Justizministers Thomas Kutschaty
zu einer Anfrage der FDP-Fraktion im Düsseldorfer Landtag.
Ein Papier, das Transparenz verspricht, aber nicht liefert
Mehr Fragen als Antworten
Von WOLFGANG KAES
Gerhard Papke ist seit 16 Jahren Abgeordneter im Landtag Nordrhein-Westfalen, er war sieben Jahre FDP-Fraktionsvorsitzender im NRW-Parlament, bis er im Mai 2012 das Amt des Vizepräsidenten des Landtages übernahm. Einen erfahrenen Politiker wie den Königswinterer Liberalen kann so schnell nichts mehr überraschen. Könnte man meinen.
Doch die Sitzung des Rechtsausschusses des Landtages am 9. März 2016 hat ihn überrascht. Für jene Sitzung hatte Papkes FDP-Fraktionskollege Dirk Wedel, promovierter Jurist, Sprecher für Rechtspolitik der Liberalen im Landtag und ehemaliger Richter am Landgericht Düsseldorf, einen weiteren Tagesordnungspunkt beantragt. Fragen zum mysteriösen Tod des 19-jährigen Godesberger Studenten Jens Henrik Bleck nach dem Besuch der Bad Honnefer Diskothek „Rheinsubstanz“ in der Nacht zum 9. November 2013 und zum Stand der Ermittlungen. Als die FDP-Fraktion den Tagesordnungspunkt am 26. Februar beantragte, wussten weder Papke noch Wedel, dass die Bonner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen soeben in aller Stille erneut eingestellt hatte.
Bei der Beantwortung von Fragen der Opposition sind Minister auf Gedeih und Verderb auf Informationen angewiesen, die ihnen nachgeordnete Beamte und Behörden zur Verfügung stellen. Dass die Antwort von NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) zum Fall Jens Bleck 17 Seiten Papier umfasst, hat selbst Gerhard Papke überrascht: „Das ist mehr als ungewöhnlich.“ Schließlich ging es bei dem Tagesordnungspunkt nicht etwa um die wirtschaftliche Zukunft des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, nicht um milliardenschwere Investitionen, nicht um die Flüchtlingskrise oder um die Kölner Silvesternacht. Sondern um den ungeklärten Tod eines jungen Mannes. Dafür sind in der Regel die örtlichen Ermittlungsbehörden zuständig. Wenn ein Minister in einer solchen Angelegenheit eine 17-seitige Antwort verfassen lässt, die seine Unterschrift trägt, könnte dies sowohl für eine gewisse Brisanz als auch für den Willen nach größtmöglicher Transparenz sprechen. Bei genauerem Hinsehen aber wird schnell deutlich, dass an nicht wenigen Stellen des Papiers geschönt und geglättet und weggelassen wurde. Einige Beispiele (die Originalzitate aus dem Minister-Papier sind kursiv gesetzt):
Seite 2: „ Grundlage der Darstellung sind Berichte des Leitenden Oberstaatsanwalts in Bonn und der Generalstaatsanwältin in Köln sowie Beiträge des Ministeriums für Inneres... “
Die Kölner Staatsanwaltschaft (nicht zu verwechseln mit der Generalstaatsanwältin in Köln) wird nicht genannt. Dabei hätte diese Behörde möglicherweise Aufschluss darüber geben können, warum die Zuständigkeit samt Akte seit November 2013 mehr als ein halbes Jahr lang zwischen Bonn und Köln hin- und hergeschoben wurde.
So lange, bis die Kölner Staatsanwaltschaft (nachdem im Frühjahr 2014 einmal sogar kommentarlos die Akte postwendend von Bonn zurück nach Köln geschickt wurde) in einem Schreiben ganz deutlich wurde: Man erwarte, dass Bonn umfassend die Möglichkeit eines Fremdverschuldens und das Vorliegen eines möglichen Anfangsverdachts prüft und die Angehörigen entsprechend unterrichtet. Später von Radio Bonn/Rhein-Sieg auf das Hin und Her angesprochen, erklärte Oberstaatsanwalt Robin Faßbender, Abteilungsleiter Kapitalverbrechen der Bonner Staatsanwaltschaft, öffentlich im Interview, er möchte die Arbeit „anderer Behörden“ nicht kommentieren.
Das war, nachdem der General-Anzeiger am 20. Oktober 2014 erstmals umfangreich mit eigenen Recherchen über den höchst mysteriösen Fall berichtet hatte, den Suizidverdacht der Polizei kategorisch ausschloss und ein Eigenverschulden durch Unfall in Zweifel zog. Prompt meldete sich eine durch die GA-Lektüre aufgewühlte Augenzeugin bei der Polizei, und prompt ermittelte die Bonner Kripo zwei Tatverdächtige.
Seite 3: „ Die Taxifahrer ... hielten ihn für stark alkoholisiert... “
Das ist so nicht korrekt. „Er hat nicht gelallt, er ist nicht geschwankt“, schildert ein Taxifahrer, der in jener Nacht an der Haltestelle vor der Diskothek stand und Jens Bleck beobachtete. „Ich erlebe jedes Wochenende Betrunkene. Aber der war anders.“
Auch Frank Sieger, am 8./9.November 2013 einer der Türsteher in der „Rheinsubstanz“ (und einer der wenigen Nicht-Mitglied der Rockergruppe „Bruderschaft Fist Fighter“), bestätigte im Gespräch mit dem General-Anzeiger, dass Jens Bleck keineswegs einen volltrunkenen Eindruck machte, sondern durchaus Herr seiner Artikulation und seiner Bewegungsmotorik zu jenem Zeitpunkt war, als er die Diskothek gegen 02.45 Uhr verließ und „wie von der Tarantel gestochen davonlief“.
Der Kölner meldete sich wenige Tage später telefonisch bei der Bonner Polizei und bot seine Zeugenaussage an. Aber erst ein Jahr später, nachdem der General-Anzeiger den mysteriösen Fall aufgegriffen hatte, wurde Türsteher Frank Sieger angehört.
Seite 3: „ Um 02:58 Uhr war eine weitere ... zur Verstärkung bei der Verkehrsunfallaufnahme angeforderte Funkstreifenwagenbesatzung ... eingetroffen. “
Ein weißer Audi war auf dem Vorplatz der Diskothek gegen einen Laternenpfahl geprallt. An dem Unfall war kein weiteres Fahrzeug beteiligt. Blechschaden, kein Personenschaden. Die erste Funkstreifenbesatzung, die den Unfall aufnahm, wies den 19-jährigen Studenten zwei Mal barsch ab, als der in panischer Angst um Hilfe bat, steckte aber dessen Geldbörse ein.
Tatsächlich wurde eine zweite Funkstreifenbesatzung bei der Wache Ramersdorf angefordert. Aber warum? Insgesamt vier Polizeibeamte der chronisch unterbesetzten Nachtschicht, um einen Unfall ohne Personenschaden und ohne strittige Unfallgegner aufzunehmen? Auch die vom Justizminister genannte Uhrzeit des Eintreffens („ um 02.58 Uhr...“ ) erscheint zweifelhaft. Nach Informationen des General-Anzeigers traf die Verstärkung schon um 02.44 Uhr ein, der Unfallwagen wurde bereits um 02.50 Uhr von einem Abschleppunternehmen abtransportiert.
Seite 4: „ Bei den Ermittlungen ergaben sich über die unfallaufnehmenden Polizeibeamten Hinweise darauf, dass Jens B. am Rande der Unfallaufnahme Kontakt zu zwei Personen hatte. “
Chronologisch korrekt wäre: Diesen Hinweis lieferte ursprünglich ein Taxifahrer. Und der ergänzte, dass einer der beiden Männer seinen Arm um Jens Bleck legte und zu den uniformierten Polizisten sinngemäß sagte: „Wir kümmern uns jetzt um den.“ Ferner beobachtete ein Taxifahrer, wie der Student wenig später aus beiden Nasenlöchern blutete.
Seite 4: „ Mit einer Pressemitteilung vom 19. November 2013 wurden diese Personen aufgerufen, sich bei der Polizei als Zeugen zu melden. Am Abend des 22. November 2013 meldete sich die Brückenzeugin A. ... telefonisch bei der Kriminalwache des Polizeipräsidiums Bonn und gab ... an, der N. weise Ähnlichkeit mit der Person auf, nach der in der Öffentlichkeit gesucht werde. Über dieses Telefonat wurde noch am selben Tag auf der Kriminalwache ein Vermerk gefertigt. “
Nur wanderte dieser Vermerk mit dem wichtigen Zeugenhinweis nicht umgehend in die offizielle Ermittlungsakte, sondern erst ein ganzes Jahr später – nach der erwähnten ersten großen Veröffentlichung im General-Anzeiger. NRW-Justizminister Thomas Kutschaty schreibt dazu auf Seite 5 seines Papiers: „ Die Gründe dafür können beim Polizeipräsidium Bonn nicht mehr nachvollzogen werden. “ Die beiden gesuchten Männer wurden bis heute nicht ermittelt. Den Eltern wurde aber auf Nachfrage mitgeteilt, eine Verbindung zum Tod ihres Sohnes sei ohnehin auszuschließen.
Seite 7: Justizminister Kutschaty schreibt, die unfallaufnehmenden Beamten hätten zu Protokoll gegeben, Jens Bleck habe ihnen gegenüber „ geäußert, er werde geschlagen. Es sei jedoch niemand anwesend gewesen, der für einen entsprechenden körperlichen Angriff in Betracht gekommen wäre“ . Tatsache ist: Zwei fremde Männer erschienen an der Unfallstelle und nahmen Jens in die Mitte, einer legte den Arm um ihn. Laut Zeugenaussage eines Taxifahrers blutete der 19-Jährige wenig später aus beiden Nasenlöchern.
Seite 11: Minister Kutschaty räumt an dieser Stelle ein, dass erst am 30. Oktober 2014, ein Jahr nach dem Tod von Jens Bleck, den Ermittlern auffiel, dass insgesamt zehn Seiten in der Ermittlungsakte fehlten – unter anderem auch das Protokoll der Vernehmung einer „ Bekannten des Verstorbenen, die sich lediglich mit in der Diskothek aufgehalten hatte “. Das verwendete Wort „ lediglich “ unterstellt leichtfertig, das Vorgeschehen in der Diskothek sei ohne Relevanz für den Fall. Dazu passt auch der Satz von Oberstaatsanwalt Robin Faßbender, Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen der Bonner Staatsanwaltschaft, General-Anzeiger und Radio Bonn/Rhein-Sieg: „Uns interessieren ausschließlich Zeugen, die das unmittelbare Geschehen auf der Brücke in jener Nacht beobachtet haben.“ Merkwürdig: Wieso soll das Vorgeschehen in der Diskothek keine Rolle spielen für das, was anschließend auf der Brücke geschah? Wovor hatte Jens Bleck solche Angst, dass er die Taxifahrer und die Polizeibeamten (vergeblich) um Hilfe bat?
Seite 14: „ Nachdem im ... Ermittlungsverfahren alle bekannt gewordenen Kontaktpersonen, insbesondere Freunde und Bekannte des Verstorbenen, Mitarbeiter der Diskothek ... vernommen waren... “
Da irrt der Minister: Es wurden keineswegs alle ehemaligen Schulfreunde vernommen, mit denen der 19-jährige Student im Anschluss an eine Geburtstagsfeier in Mehlem mit der Bahn zur Diskothek nach Bad Honnef gefahren war. Ebenfalls nicht vernommen wurde beispielsweise das Thekenpersonal jener Nacht und ebenfalls nicht einer der Türsteher, der nachweislich sogar intensiven körperlichen Kontakt zu dem 19-Jährigen hatte.
Seiten 14/15: „ Die Angaben der Eltern des Verstorbenen, die Polizei habe ihnen mitgeteilt, dass das Portemonnaie ihres Sohnes am Rheinufer aufgefunden worden sei, kann durch das Polizeipräsidium Bonn weder bestätigt noch verifiziert werden. Zutreffend ist, dass das Portemonnaie durch einen Polizeibeamten an der Verkehrsunfallstelle entgegengenommen und nachfolgend asserviert wurde... Der Wachleiter der Polizeiwache Ramersdorf führte ... (am 16. November 2013, d. Red.) eine Unterredung mit den Eheleuten und bat dabei auch um Verständnis dafür, dass der fragliche Beamte ein persönliches Gespräch mit ihnen ablehne .“
Warum die Eltern dafür Verständnis aufbringen sollten, zumal ihr Kind zu diesem Zeitpunkt noch als vermisst galt, weil die Leiche erst eine Woche später, am 24. November 2013, im Rhein gefunden wurde, beantwortet das Minister-Papier nicht.
Seite 15: „ Soweit in der Öffentlichkeit zum Teil der Eindruck vermittelt wurde, wegen der erst im Oktober 2014 erfolgten Übernahme des Verfahrens ... durch die Staatsanwaltschaft Bonn seien erfolgversprechende Ermittlungen unterblieben, trifft dies nach den erstatteten Berichten nicht zu .“
Minister Kutschaty bleibt hier die Antwort schuldig, welche Erfolge die Ermittler denn in den ersten elf Monaten nach dem Tod des Studenten vorzuweisen hatten. Erst nach der Veröffentlichung im General-Anzeiger am 20. Oktober 2014, in der die zahlreichen Ungereimtheiten aufgelistet wurden und die Suizid-Theorie in Zweifel gezogen wurde, konnten zwei Tatverdächtige ermittelt werden.
Seite 17: „ Dem Verfahrensbevollmächtigten des Vaters des Verstorbenen wurde zwischenzeitlich unmittelbar auf dessen Anforderung hin sämtliches Videomaterial in Dateiform zur Verfügung gestellt. “
Unmittelbar? Richtig ist: Am 28. August beantragte der Anwalt der Familie die Sichtung der Aufzeichnungen der Videokameras der Diskothek. Keineswegs „ unmittelbar “, sondern erst fünf Monate später, mit Datum 18. Januar 2016 und Posteingang 1. Februar 2016, erhielt der Anwalt das Videomaterial – zusammen mit der Einstellungsverfügung der Bonner Staatsanwaltschaft.
Seite 17: „ Bei der fraglichen Diskothek handelte es sich nach Erkenntnissen des Polizeipräsidiums Bonn nicht um einen Kriminalitätsbrennpunkt. “
Was ist nach Bonner Maßstäben (oder nach Maßstäben des NRW-Justizministers) ein Kriminalitätsbrennpunkt? Natürlich ist Bad Honnef so ziemlich das Gegenteil von Duisburg-Marxloh. Die offizielle Ausweisung eines Ortes als Kriminalitätsbrennpunkt ermöglicht in manchen Bundesländern zum Beispiel polizeiliche Maßnahmen gegen Personen ohne das Bestehen eines konkreten Tatverdachts. Tatsache ist aber auch: Nach jeder Veröffentlichung im General-Anzeiger zum Fall Jens Bleck in den vergangenen zwei Jahren meldeten sich in der Redaktion Menschen, die Zeuge oder Opfer von brutalen Gewaltexzessen oder K.o.-Tropfen in der (inzwischen geschlossenen) Diskothek wurden. Nicht wenige dieser berichteten Fälle waren zuvor schon polizeibekannt.
Seite 17: Minister Kutschaty schreibt zum gewalttätigen Umfeld der Diskothek: „ Die Staatsanwaltschaft Bonn hat ... keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte zur Einleitung von Ermittlungsverfahren gesehen. “ Dieser Satz erinnert an einen anderen Fall – und an eine Pressemitteilung des Polizeipräsidiums vom 17. Januar 2012: „ Der Sachverhalt wurde der Bonner Staatsanwaltschaft vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft sieht keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sie freiwillig ihren Lebenskreis verlassen und sich ... ins Ausland begeben hat. “ Die damals vermisste Trudel Ulmen hatte keineswegs freiwillig ihren Lebenskreis verlassen. Sie befand sich auch nicht im Ausland. Als die Pressemitteilung im Januar 2012 verfasst wurde, lag ihre Leiche seit 16 Jahren nur wenige Kilometer von Staatsanwaltschaft und Präsidium entfernt in einem namenlosen Grab für unbekannte Tote auf dem Bad Honnefer Friedhof. Der Täter hatte sie 1996 erstickt. Elf Monate, nachdem die Bonner Staatsanwaltschaft „ keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat “ sah, wurde er zu elf Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.
aus der ePaper-App des General-Anzeiger Bonn