Mord an Jonny K
15.08.2013 um 10:37
PROZESS ZU JONNY K. ENDET
Die Nacht der Tritte und Schläge
Von Annett Heide
Was geschah am 14. Oktober am Alexanderplatz? Das Gericht kann nicht klären, wodurch Jonny K. genau starb. Aber immerhin hat die Staatsanwaltschaft den Provokateur ausgemacht. An diesem Donnerstag soll das Urteil fallen.
Es sind sechs junge Männer, die heute ihr Urteil erwarten. Sechs Männer, die einen toten Mann auf dem Gewissen haben. Er war genauso alt wie sie, als sie ihn erschlugen. Einen schmalen Unbekannten mit einer roten Baseballkappe, den sie sterbend auf dem Pflaster liegen ließen. Direkt nach der Tat hörten Zeugen, wie sich die Angeklagten in der U-Bahn damit brüsteten. Der Hauptangeklagte Onur U. traf sich später mit dem Angeklagten Hüseyin I. in einer Shisha-Bar, und sie planten, sich ein Auto zu besorgen und zum „Spaß haben“ ins Wellnessbad Tropical Islands zu fahren. Der Angeklagte Melih Y. ging zu einem Fußballspiel. Jonny K. starb.
Der Tod des zwanzig Jahre alten Schülers war der spektakulärste einer Reihe von Fällen sinnloser, ansatzlos ausbrechender Gewalt auf den Straßen Berlins im vergangenen Jahr und führte bundesweit zu Diskussionen über den Umgang mit Jugendgewalt.
In jener Nacht, am 14. Oktober gegen 3.45 Uhr morgens, kamen die sechs Angeklagten Memet E., 19, Osman A., 19, Hüseyin I., 21, Melih Y., 21, Bilal K., 24, und Onur U., 19, aus der Bar Cancún am Alexanderplatz. Sie waren angetrunken und wollten nach Hause. Genauso wie Jonny K. und zwei Freunde, die aus der Bar Mio schräg gegenüber kamen und einen vierten Freund, der sich besinnungslos betrunken hatte, in Richtung eines Taxis schleppten. Weil er ihnen zu schwer wurde, wollten sie ihn kurz absetzen. Da machte Onur U. etwas, das er selbst vor Gericht „etwas sehr Dummes“, nennt, „etwas, was ich sehr bereue, der Auslöser für alles“.
Alles. Mit diesem Wort umreißt U. die Schlägerei, an der sich alle Angeklagten beteiligten und in deren Folge Jonny K. an einer massiven Hirnblutung starb. Nur: Durch welchen Schlag es dazu kam, durch welchen Tritt oder vielleicht bloß durch den Sturz, als Onur U. ihn mit einem Faustschlag niederstreckte, wie ein Zeuge erklärte, das lässt sich nach Aussage der Rechtsmediziner nicht klären. Alles ist möglich. Jeder der Angeklagten könnte schuld am Tod sein. Alle geben zu, dass sie zugeschlagen oder getreten haben, aber die Schuld an Jonny K.s Tod weist jeder von sich. Deshalb ging es in diesem Prozess vor allem darum herauszufinden, wer Jonny K. den ersten Schlag verpasste.
In der Türkei versteckt
Schon vor dem Prozessbeginn hatte sich durch die ausführliche Berichterstattung in der Öffentlichkeit das Bild von einem Gewaltexzess festgesetzt. Die Angeklagten Bilal K. und Onur U. waren derweil in die Türkei geflohen und hielten sich dort fast ein halbes Jahr lang versteckt. U. gab der Bild-Zeitung dort ein Interview und ließ sich auch fotografieren. Das verdichtete die Vorstellung von feigen, kaltblütigen Schlägern. Der Berliner Justizsenator Thomas Heilmann und der Innensenator Frank Henkel schalteten sich auf politischer Ebene in die Aufklärung des Verbrechens ein, schließlich auch Angela Merkel.
Währenddessen gab auch Tina K., Jonnys ältere Schwester, zahlreiche Interviews, trat in Talkshows auf und gründete die Initiative „I am Jonny“ gegen Gewalt. Sie reist seitdem durch ganz Deutschland und spricht mit Schülern über den Fall.
Zwischenzeitlich wurde sie zum Medienstar. Manche werfen ihr Geltungssucht und Abgebrühtheit vor. Im November wurde sie für ihr öffentliches Eintreten gegen Jugendgewalt mit dem „Bambi“ ausgezeichnet, zusammen mit dem Rabbiner Daniel Alter, der von arabischstämmigen Jugendlichen in Friedenau verprügelt worden war.
Der Prozess begann im Mai erstaunlich ruhig und geordnet. Das lag vor allem an der besonnenen, vermittelnden Art des Vorsitzenden Richters Helmut Schweckendieck. Dann gab ein Schöffe dem Boulevardblatt B.Z. ein Interview und äußerte sich abfällig über Zeugen und Anwälte. Er wurde wegen Befangenheit abgesetzt, der Prozess musste noch einmal beginnen. Richter Schweckendieck nannte diesen Vorgang „extrem ärgerlich“, Tobias Kaehne, der Gerichtssprecher, erläuterte, dass zwar der Schöffe selbst für sich verantwortlich sei, „aber die B.Z. muss sich fragen lassen, ob sie alles tun muss, was sie tun darf“.
Besonders schmerzhaft dürfte die zweite Verlesung der Anklage, die zweite Anhörung der Rechtsmediziner und die zweite Zeugenaussage für die Nebenkläger Tina K. und ihren langjährigen Lebensgefährten Gerhard C. gewesen sein. C. war es, der den besinnungslosen Freund huckepack auf dem Rücken hatte und ihn auf einem Stuhl vor dem Eiscafé neben der Bar Cancún absetzen wollte.
„Dabei merkte ich, wie der Stuhl weggezogen wurde. Da sah ich ihn. Er hat gelacht.“, sagt C. im Gericht und zeigt auf Onur, der kaum drei Meter links von ihm neben seinem Anwalt sitzt. „Er schlug Jonny mit der rechten Faust. Kurz darauf schlug auch der etwas Dickere zu.“ Damit meint er Melih Y. „Dann wurde der Kreis dichter, sie haben von allen Seiten auf Jonny eingeschlagen.“ C. nennt nun die Namen der Täter und eine Schlagabfolge. Der Richter fragt: „Sind Sie sicher, dass Sie diese Zuordnung jetzt noch machen können? Das ist ja etwas anders als letztes Mal.“ – „Es war genau so. Ich sehe die erst jetzt so sitzen, vorher habe ich die nicht angesehen.“
C.s Verletzungen, die Brüche im Handgelenk, im Augenhöhlenboden und im Jochbein, sind weitgehend verheilt. Aber er ist deutlich gezeichnet. „Er wirft sich bis heute vor, dass er nicht genug getan hat, um Jonnys Tod zu verhindern“, wird Tina K. später sagen. Doch seine Erinnerungen sind vor allem eins: schlüssig. Das sind die Aussagen der Angeklagten nicht immer. Wie zum Beispiel die von Melih Y., der sagte, er habe Jonny zwar getreten, sich dann aber umgedreht und nichts mehr mitbekommen. Ist das wahrscheinlich? Dreht sich jemand, der gerade auf einen Menschen auf dem Boden eingetreten hat, einfach um und guckt nicht mehr, was die Kumpels weiter mit ihm machen?
Die Staatsanwaltschaft ist zu der Überzeugung gelangt, dass es ohne die Provokationen von Onur U. keine Schlägerei gegeben hätte. Es sei eindeutig er gewesen, der zuerst zugeschlagen habe. Oberstaatsanwalt Michael von Hagen forderte am Montag daher für ihn fünfeinhalb Jahre Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Für die fünf weiteren Angeklagten forderte er zwischen zweieinhalb und drei Jahren Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und der Beteiligung an einer Schlägerei.
U. rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und grinste hilflos, als er das hörte. Sein Anwalt Axel Weimann reagierte entsetzt. „Mein Mandant ist nicht verantwortlich für den Tod. Die Angeklagten wollen die Schuld bewusst auf Onur schieben.“ Er beantragte eine Bewährungsstrafe und auch die Vorladung neuer Zeugen. Möglicherweise wird deshalb heute nicht das Urteil verkündet, sondern die Beweisaufnahme wieder aufgenommen.
Es lohnt sich, noch einmal auf die Aussagen von Onur U. zu schauen. Er ist gebürtiger Berliner und besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft. Er ist ein talentierter Boxer, dreimal war er Berliner Meister in seiner Gewichtsklasse, beendete seine Karriere aber aufgrund einer Kapselverletzung. Nach dem Hauptschulabschluss begann er eine Ausbildung als Lagerarbeiter bei der Bundeswehr. Die brach er nach eigener Darstellung wieder ab, weil sein Vorgesetzter ihn wegen des Boxens hänselte.
U. lebt bei seinen Eltern, und die wiederum leben von Hartz IV, wie er sagt. Zuvor hatte sein Vater eine Autowerkstatt, „aber dazu hatte er keine richtige Lust mehr“. Sein Vater ein korpulenter, vierschrötiger Kerl, erscheint meist in Hemd und Leinenhosen im Gerichtssaal. Seine Mutter, eine gepflegte Frau mit stets dunkelrot geschminkten Lippen, einer Louis-Vuitton-Handtasche und einer Sonnenbrille im Haar, vermittelt durch ihre Kommentare den Eindruck, dass sie es für ungerechtfertigt hält, dass ihr Sohn auf der Anklagebank sitzt. Die Eltern fahren oft in einem Mercedes davon.
U. ist mehrfach vorbestraft. Eine Strafe rührt daher, dass er mit seinem Vater angebliche Schulden eintreiben war und dort jemanden verprügelte. Die letzte Strafe ist die Folge davon, dass er in einem Stau mit dem Auto seiner Mutter auf einen Fahrradweg auswich und einen Fahrradkurier, der ihn dafür maßregelte, verprügelte.
Die übrigen Angeklagten sind nicht vorbestraft. Es fällt aber auf, dass keiner von ihnen einen weiterführenden Schulabschluss oder eine Ausbildung hat. Während der Untersuchungshaft haben sie sich überlegt, dass sie dies nachholen wollen, teilten ihre Anwälte mit. Melih Y. gibt als Zukunftsplan an, dass er heiraten will. Bis auf Bilal K. sind sie nicht mehr in Untersuchungshaft und seither geradezu aufgeblüht. Sie scherzen hinter den Rücken ihrer Anwälte im Saal, einmal haben Osman A. und Melih Y. einen Lachanfall, Osman A. erscheint mit einer neuen Gucci-Kappe, Melih Y. ist tief gebräunt, Hüyesin I. trägt eine sehr breite, neue weiße Uhr.
U. hat erklärt, dass er es „voll krass“ finde, wozu ein Fausthieb führen könne, das habe er erst durch die Rechtsmediziner erfahren. „Das hat mich sehr bewegt und sehr nachdenklich gemacht.“ Dann schildert er noch einmal die Tatnacht. Er sei aus dem Cancún gegangen mit dem Plan, zu einer anderen Party zu fahren, wo „gute Mädchen“ sein sollten. Draußen habe er gesehen, dass sein Vater versucht hatte, ihn anzurufen. Er rief zurück. „Komm nach Hause“, habe sein Vater angeordnet, „du weißt, dass ich sonst kein Auge zumache.“ Immer wieder erwähnt U. die dominante Rolle seiner Eltern.
Tanzen und kreischen
„Doch ich habe dann diesen blöden Scherz gemacht und habe wie ein Mädchen mit den Hüften geschwungen. Ich habe den Stuhl weggezogen und wollte damit tanzen und habe wie ein Mädchen gekreischt.“ Er habe dann auf „den Dunkelhäutigen“, also Gerhard C., eingeschlagen, „mit beiden Fäusten abwechselnd, zehn oder zwölf kurze, schnelle Schläge“. Dann wollte er zur U-Bahn gehen und „kam an einem Jungen vorbei, der auf dem Boden lag. Er sah so aus, als ob er schlief.“ Im Nachhinein wisse er natürlich, dass das Jonny war, erklärt U., aber er habe mit seinem Tod wirklich nichts zu tun.
An dieser Stelle muss man erwähnen, dass U. es im zweiten Prozess selbst übernahm, seine Erklärung zu verlesen, während er dies im ersten Prozess seinem Anwalt überlassen hatte. Er erklärte auch ausdrücklich, dass ihm seine Tat leid tue und er die volle Verantwortung dafür übernehme. Damit meint U. allerdings, dass er Gerhard C. zusammengeschlagen hat, „das muss man wohl so sagen“. Es ist schwer zu sagen, ob er diese Aussagen aus taktischen Gründen macht oder tatsächlich Reue empfindet.
Tina K. nimmt Onur U. keine ehrlichen Gefühle ab. „Der guckt mich immer so durchdringend an und grinst und sein Hemd ist weit aufgeknöpft. Er kann nicht einmal vernünftig dasitzen. Wie kann man so posieren, wenn man wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt ist?“ Kurz nach Jonnys Geburtstag im April hat sich Tina K. sein Gesicht auf das linke Schulterblatt tätowieren lassen. Sie will ihren Bruder immer bei sich haben, für alle sichtbar.
Der Prozess helfe ihr enorm dabei, in den Alltag zurückzufinden, erzählt K., doch sie sei davon sehr fertig. Einfach müde. Deshalb sei das Urteil jetzt auch wichtig, um ein Ende zu setzen, „auch wenn es nicht wirklich etwas ändert.“ Dass Onur U. mit einer Bewährungsstrafe davonkommt, wie von der Jugendgerichtshilfe empfohlen und von seinem Anwalt gefordert, mag sie sich nicht vorstellen. „Es kann doch nicht sein, dass man nicht mehr auf die Straße gehen kann, weil jemand reifeverzögert ist. Aber es bleibt die Frage, welche Strafe überhaupt gerecht wäre. Welche Strafe würde diese Täter denn zum Nachdenken bringen?“