@bit Stand der Forschung ist, daß der Neandertaler im statistischen Mittel ein größeres Hirnvolumen hatte als der Sapiens. Wie Du ja selber zu berichten weißt, geben aber manche Journalisten, selbst Wissenschaftsjournalisten, die Dinge gelegentlich bis häufig erschreckend falsch wieder. Da sollte man sich dann nicht irgendwelche Bilderken ausm Net raussuchen, sondern erst mal den eigentlichen Stand der Forschung eruieren.
So schreibt z.B. Alfred Czarnetzki, seines Zeichens Paläanthropologe von der Uni Tübingen, der angesichts mehrerer Publikationen zum HN sich eben auch mit dieser Spezies befaßte:
Der Schädel der Neandertaler zeigt die deutlichsten Anzeichen einer hohen Spezialisation. So fällt vor allem das Gehirnvolumen auf, das trotz der relativ flachen Stirn durchschnittlich größer ist als beim heutigen Menschen. Eine detaillierte Betrachtung macht sofort deutlich, daß die Gebiete für das Erkennen optischer Eindrücke oder die Differenzierung von Geräuschen in der Masse besonders groß ausgebildet sind. Durch das weit ausgezogene Hinterhaupt als Sitz des Hinterhauptlappens des Großhirns (Lobus occipitalis) wird signalisiert, daß der Bereich für die Wahrnehmung optischer Eindrücke wie z.B. optische Dingerkennung, Ortssinn, Ortsgedächtnis, Farberkennen, Helligkeitserkennen usw., aber auch beispielsweise für optische Gedanken ausgezeichnet ausgebildet war.
Damit war der Neandertaler z.B. in der Lage, das, was er einmal gesehen hatte, auch zielsicher wiederzuerkennen. Zu seinen optischen Fähigkeiten passen auch gut die großen Augenhöhlen, stellvertretend für große Augäpfel, die sich vor allem bei exzellenten Nachtsehern finden. Auch hier besagt der Analogieschluß, daß der Neandertaler nicht gerade ein Nachtseher, aber doch noch ausgezeichnet in der Dämmerung agieren konnte. Allein dieser Teil des Gehirnes gibt also Aufschluß darüber, daß der Neandertaler für diese Eigenschaften hochspezialisiert war.
Die scheinbare Verlagerung der Warzenfortsätze zur Mitte des Schädels ist ein Zeichen für die übermäßige Ausdehnung der Hirnrindenfelder, die oberhalb (kranial) von diesen lokalisiert sind. Auch hier sei kurz ein Blick auf die dort lokalisierten Fähigkeiten geworfen. Zu Ihnen gehören Geräusch-, Ton- und Lautempfindungen, Sinnverständnis für Geräusche und Musik und ähnliches mehr. Damit kann als gesichert gelten, daß diese Fähigkeiten bei ihm deutlich besser als bei uns heutigen Menschen ausgebildet waren oder ausgebildet werden konnten. Jede weitere Interpretation über "Das was" er besonders auf diesen beiden Gebieten seines kognitiven Erkennens differenzieren konnte, wäre daher reine Spekulation.
[...]
Die sogenannte Spezialisierung des Neandertalers steht im Zusammenhang mit bestimmten Fähigkeiten seines Gehirns, die sogar deutlich besser ausgebildet sein konnten als beim heutigen Menschen: nämlich das kognitive Sehen und Hören sowie ein möglicherweise verbessertes Sehen in der Dämmerung.
http://www.archaeologie-online.de/magazin/thema/mythos-neandertaler/die-neandertaler-eine-hochspezialisierte-art/seite-1/ (Archiv-Version vom 14.02.2013)Ist zwar von 2001, also nicht aktuell, freilich wurden seither nicht Unmengen an neuen HN-Schädeln gefunden, die diesen Durchschnitt grob hätten verschieben können.
Der Hirnschädel des HN war zwar flacher, dafür aber stärker in die Länge gezogen. Gerade die unterschiedliche Form, die sich daraus ergibt, erlaubt es uns ja, Aussagen über die Größe der unterschiedlichen Hirnareale zu treffen, so nach dem Motto: "wie groß wären die einzelnen Hirnareale des Homo sapiens, wenn man das Sapiensgehirn in einen Neandertalerschädel einpaßt". Dies ist durchaus gerechtfertigt, da auch die Gehirnanatomie der Menschenaffen praktisch die gleiche ist wie bei uns, nur daß eben die einzelnen Areale unterschiedlich groß sind.
Gerade deswegen wundert es mich, wenn in dem hier vorgestellten Artikel die Größe bestimmter Hirnareale z.B. vom Körpergewicht her bestimmt und nicht am Hirnschädel geprüft werden.
Eine andere sinnvolle Methode, sich über ein Mindestmaß kognitiver Fähigkeiten einer Menschenspezies kundig zu machen, ist die Untersuchung der archäologischen Hinterlassenschaften kultureller Betätigung. Und da scheint der Homo neandertalensis nirgends dem gleichzeitig lebenden Homo sapiens nachzustehen. Die Werkzeugkulturen waren gleichwertig, es gab Beerdigung, Schmuck, Musik, sogar figürliche Kunst. Auch soziale Interaktion und Fürsorge ist bezeugt, wenn ich da an den Hydrocephalus-Schädel eines siebenjährigen HN-Kindes denke: das Kind mußte bis da erst mal durchgefüttert werden. Mag der Neandertaler damit seine kognitiven Leistungen sogar schon bis an die Grenze ausgereizt haben, so war er deswegen nicht gegenüber dem Sapiens im Nachteil. Nicht, bevor der HS Innovationen hervorbrachte, zu denen der HN nicht in der Lage war. Und das erfolgte erst
nach dem Ableben des HN.
Im übrigen hatte der Homo Sapiens zur Zeit des Jungpaläolithikums tatsächlich ein größeres Hirnschädelvolumen. Aber dies bedeutete nicht, daß er zu mehr kognitiven Leistungen fähig gewesen sein müsse als der Neandertalensis - denn sonst würden auch wir Heutigen kognitiv hinter ihm zurückstehen. Selbst unter uns heutigen gibt es Schwankungen des Hirnvolumens von 900 bis 2000cm³ - ohne daß damit ein Unterschied der Denkleistung einherginge!
Pertti