Ist "Nichts" wirklich nichts?
26.07.2007 um 18:06
...Nichts ist Alles bis auf das Ganze und alle seiner Teile. Der Frage, ob sich Nichtsdenken lässt oder nicht - und wenn ja, wie - ist in der Philosophiegeschichte auf sehrverschiedene Arten nachgegangen worden. Im Folgenden seien einige Antworten vorgestellt,die in der Geschichte des Denkens weitere Kreise gezogen haben.
Der Umgang mitdieser Frage kann aus der Perspektive verschiedener philosophischer Disziplinengeschehen, Nichts kann als Thema der Metaphysik und Ontologie behandelt werden (z.B. beiPlaton oder Hegel), Nichts kann aber auch als existentielle Erfahrung philosophischbeschrieben werden (z.B. bei Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre), oder die Spuren vonNichts können als sprachphilosophische und logische Phänomene wie Verneinung oderFalschheit analysiert werden...
Vorsokratische Beschäftigung mit demNichts...Die Frage nach dem Nichts beschäftigt die westliche Philosophie seit ihremallerersten vorsokratischen Anfang. Der griechische Philosoph Parmenides von Eleabehandelt das Thema in dem einzigen von ihm erhaltenen Fragment, seinem Lehrgedicht Überdie Natur:
„Wohlan, so will ich denn verkünden (Du aber nimm mein Wort zu Ohren),welche Wege der Forschung allein denkbar sind: der eine Weg, daß (das Seiende) ist unddaß es unmöglich nicht sein kann, das ist der Weg der Überzeugung (denn er folgt derWahrheit), der andere aber, daß es nicht ist und daß dies Nichtsein notwendig sei, dieserPfad ist (so künde ich Dir) gänzlich unerforschbar. Denn das Nichtseiende kannst Du wedererkennen (es ist ja unausführbar) noch aussprechen.“
Aus diesen Zeilen lässt sich dieHandlungsanweisung entnehmen, sich nicht mit dem Nichtseienden zu befassen und alleAufmerksamkeit stattdessen allein dem Seienden zukommen zu lassen. Es ist nämlichunmöglich, über das Nichtseiende zu sprechen, da im selben Moment, als man von diesemetwas aussagt, dessen Sein wieder voraussetzt. Außerdem sind Sein und Denken äquivalent:Über das Nichts kann man demnach nicht nachdenken. Auf diese Weise entsteht eineDefinition der Aufgabe von Wissenschaft: lohnende Forschung kann alles zum Thema haben,nur nicht das Nichts. Der Spruch des Parmenides von Elea gilt als erste Formulierungabstrakter metaphysischer Reflexion im antiken Griechenland und dient Platons DialogSophistes als Ausgangspunkt.
Platons Bestimmung von Nichts alsVerschiedenheit...Platon relativiert die Position des Parmenides vom absoluten Nichts. Indem Dialog Sophistes bestimmt er das Nichts als Nichtseiendes und dieses schließlich ineiner längeren Argumentationskette als Verschiedenheit. Dabei werden fünf höchsteKategorien/Ideen entwickelt, die irreduzibel sind und an denen alle anderen Ideenteilhaben. Durch die Teilhabe an diesen fünf Ideen wird alles andere erst, was es ist,ohne mit den fünf Ideen identisch zu sein. Die fünf Ideen sind Sein, Ruhe und Bewegung,Identität und Verschiedenheit. Jede dieser Ideen ist mit sich selbst identisch und hatteil an den anderen Ideen. Durch die Verschiedenheit wird die Möglichkeit des Nichtseinsaufgemacht. Die Idee der Ruhe ist mit sich selbst identisch, aber verschieden von denanderen vier Ideen. Sie hat Anteil z.B. an der Idee des Seins, sie ist jedoch nicht dieIdee des Seins. Die Idee der Verschiedenheit eröffnet also die Möglichkeit desNichtseins.
Spätantike und Mittelalter...In der frühchristlichen Philosophiestellt sich das Problem bei der Diskussion der göttlichen Schöpfung: sie kann nachAugustin nur ex nihilo, aus dem Nichts erfolgt sein, denn alles andere wäre keineSchöpfung, sondern lediglich eine Umwandlung. Tertullian differenziert zwei Sprechweisenund korrigiert Augustin: dieser meine die Schöpfung eigentlich a nihilo, 'von nichtsher', ohne eigene Ursache. Ex nihilo hingegen bedeutete, daß Nichts als eine Substanz zufassen; dies führt nach Tertullian zur Gnosis. Nikolaus von Kues versteht unter demNichts die alteritas, die 'Andersheit', die je spezifisch zu einem möglichen Seinangelegt ist.
Hegels Bestimmung von Nichts...Das Nichts ist derGegenbegriff zum Sein.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel beginnt seine Wissenschaftder Logik mit den drei Bestimmungen „Sein“, „Nichts“, „Werden“. Sein, „reines Sein“ sollals unbestimmtes Unmittelbares verstanden werden. Da das reine Sein unbestimmt sein soll,kann es keine Qualität haben, keine irgendwie geartete innere Komplexität, es können auchkeine Beziehungen zu anderen Dingen oder Gedanken bestehen. Die Unmittelbarkeit desreinen Seins betont noch einmal, dass das reine Sein keinen äußeren Bedingungenunterliegt, keine Ursache hat, sondern einfach nur es selbst ist. Der Gedanke des reinenSeins erweist sich somit als vollkommen leer und das, was in diesem leeren Gedankengedacht wird, ist eigentlich nichts. Die Bestimmungen vom reinen Sein und vom reinenNichts erweisen sich als dieselben und auch der Gedanke vom reinen Nichts ist mit demGedanken vom reinen Sein identisch.
„Dies reine Sein ist nun die reineAbstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, dasNichts ist.“ (Enzyklopädie, § 87)
Kerngedanken dieses Zitats:
Das reine Seinist für Hegel „reine Abstraktion“.
Aus dieser Eigenschaft lässt er folgen, dass dasSein das „Absolut-Negative“ sei.
Ist das Sein das Absolut-Negative, so ist es Nichts.
Bestimmung vom Nichts als existentielle Erfahrung...Nach Martin HeideggersAufsatz Was ist Metaphysik? gehören das „Nichts“ und das „Sein“ zusammen. Sie sind nichtdasselbe, aber sie bedingen sich und gehören zusammen. Erst durch das „Nichts“ offenbartsich das „Sein“ als eine „Befremdlichkeit“ oder als das „Andere“. Deutlich spürbar istdieses „Nichts“ in der „Stimmung“ der Angst, nicht in der Furcht vor etwas Bestimmtem,sondern in der tiefen, in uns verborgenen „Angst vor“, oder „wegen“. Nicht ganzunbestimmt, aber auch nicht in Worten fassbar, eben die Angst vor dem „Nichts“. In einersolchen Angst ist einem alles gleichgültig und zwar gleichermaßen gleichgültig. Ob Tischoder Stuhl, Tod oder Leben, es hat keine Relevanz. Eine merkwürdige Ruhe durchziehteinen, fast wie in der Stimmung der Langeweile, die dem Sein am spürbar nächsten ist, unddoch nicht ganz. Dieser kleine, von uns gefühlte Unterschied zwischen den beidenStimmungen, wieder nicht in Worten fassbar, aber als etwas „Fehlendes“ fühlbar, ist das„Nichts“.
Sartres Bestimmung vom „Nichts“ als Freiheit...Jean-Paul Sartrebestimmt den Menschen in seinem Werk Das Sein und das Nichts als die Form des Seins, diedas Nichts in die Wirklichkeit bringt und sich dadurch von allem anderen (bewusstlosen)Sein unterscheidet. Aus der Bewusstheit, die der Mensch über die Möglichkeit desNicht-Seins hat, leitet er die Fähigkeit der „Negation“ ab. Damit ist die Fähigkeitgemeint, sich von bestimmten Zukunfts- und Vergangenheitsbildern zu distanzieren. Durchdiese Fähigkeit der Negation hat der Mensch die Freiheit, sich in die Zukunft zuentwerfen und aus der Vergangenheit zu lösen. Diese Freiheit verstärkt sich noch, da derMensch auch die Form der eigenen Gegenwart negieren kann („ich bin das, was ich seinwerde“) und somit auch nicht von dieser „abhängig“ ist, bzw. „festgelegt“ wird. DasNichts ist nach Sartre die Freiheit, die dem Menschen gegeben ist und die nicht abgelehntwerden kann.
Sartre verweist in seinem Werk Das Sein und das Nichts außerdemdarauf, dass das Nichts eigentlich nicht durch Seinsbegriffe zu erfassen ist. Dertranszendente Begriff des Nichts kann laut Sartre aufgrund der Nichtexistenz einesInhaltes nur annähernd verdeutlicht werden, z.B. in der Grenzziehung zwischen einemMoment und dem folgendem. Versuchen wir uns hier eine Grenze vorzustellen, sind wir dazunicht in der Lage und genau hier finden wir das „Nichts“.
Blochs Philosophiedes Noch-Nicht-Seins ...Eine differenzierte Philosophie des Nichts findet sich auch beiErnst Bloch. Unter der Kategorie des 'Noch-Nicht-Seins' fasst Bloch die verschiedenenFormen der menschlichen Erfahrung des Mangels als Ausdruck einer fundamentalen'Nichtigkeit' einer Gegenwart, in der allerdings Tendenzen auf ein mögliches, volles Seinangelegt sind.
Derridas Bestimmung vom „Nichts“ als Schweigen...In seinerKritik an Foucaults Deutung des descartschen „Cogito“ entwickelt Jacques Derrida (Cogitound die Geschichte des Wahnsinns, in: Die Schrift und die Differenz) auch eine Bestimmungvon „Nichts“. „Nichts“ ist die wahnsinnige Unbestimmtheit jenseits der von ihr befreiten„cogito-Erfahrung“, welche als feste Basis Gewissheit über unsere eigene Existenz gibt,jedoch nicht über selbige hinaus. Aufgrund des Wesens des „Nichts“ kann über es nichtgesprochen werden, da die Sprache Ausdruck der Vernunft ist, welche dem „Nichts“gegenübersteht und es in Schach hält. „Nichts“ offenbart sich also ausschließlich imSchweigen.
„Nichts“ im Buddhismus ...Der buddhistische Begriff Shunyata(Sanskrit, jap. kû) bedeutet Leere oder Leerheit. Eine Gleichsetzung von Shunyata(Mahayana) und Nichts (Nihilismus) wird üblicherweise vermieden. Der japanische PhilosophNishitani bildet eine Ausnahme: Durch genaue Kenntnis der westlichen und östlichenPhilosophie gelingt eine Paralleldarstellung von Nihil und Shunyata inexistentialistischer Sprache. In der Übersetzung von Büchern, die Übungen imZen-Buddhismus beschreiben, wird insofern auch vom Nichts gesprochen. Im Ideal ist diesdie Praxis einer nicht vorhandenen Anhaftung.
Siehe auch: Anatta, Mu(Philosophie)
Rudolf Carnaps logische Syntax der Sprache...In diesem Werkversuchte der logische Positivist Rudolf Carnap, der Leiter des sog. Wiener Kreises war,aufzuzeigen, dass sämtliche Sätze über das Nichts auf sprachlicher Verwirrung beruhen unddass die Bildung des Substantivs „das Nichts“ zwar syntaktisch korrekt ist, jedoch denSatz, welcher den Ausdruck beinhaltet, zu einem sogenannten sinnlosen Satz macht. Carnapbegründet dies mit der Unmöglichkeit zur Verifikation, was jedoch ein problematischesKonzept darstellt. Dennoch besteht in der heutigen Epistemologie und Sprachphilosophieein weit reichender Konsens über die Leere des Begriffs „das Nichts“.
Nihilprivativum ...Das nihil privativum definiert das Nichts als eine Abwesenheit von Etwas imGegensatz zu einem autosemantischem Begriff.
Beispiele hierfür:
Schatten,Finsternis als Abwesenheit von Licht
Kälte als Abwesenheit von Hitze
...MeinBeitrag dazu...