Vomü62 schrieb:Eben. Wie kann man aber, wenn man das begriffen hat, weiterhin auf "Marktwirtschaft" setzen, in der sich früher oder später wieder mächtige und weniger mächtige Akteure herausbilden
Wenn du denkst, dass Marktwirtschaft automatisch diesen Effekt hat, dann liegst du falsch.
Marktwirtschaft als System ist dynamisch, erlaubt den Teilnehmern Freiheit, Entfaltung, Ausdruck über Produktion und Konsum.
Es ist das ideale Systeme für freiheitliche Gesellschaften.
Man muss sie nur im Zaum halten, was gar nicht so schwierig ist.
Nur haben wir eben durch die neoliberalen Reformen absichtlich unsere Kontrollmechanismen, um den Markt im Zaum zu halten, abgegeben.
Vomü62 schrieb:Wir brauchen etwas ganz anderes (und nein, keine Planwirtschaft).
Ich denke es gibt da nichts anderes. Das ist ein Spektrum zwischen Planwirtschaft und freier Marktwirtschaft.
Wir brauchen kein anderes System. Nur schlaue Regulierung und vernünftige Zielsetzungen und Prioritäten.
Vomü62 schrieb:aber das sich "Eliten" Netzwerke schaffen, um ihre Interessen durch zu setzen, dürfte ja wohl niemand mit klarem Verstand bestreiten.
Der Name dafür ist Lobbyismus.
Meiner Meinung nach beziehen sich Verschwörungstheorien in den seltensten Fällen auf Lobbyismus.
monstra schrieb:Und da wundern wir uns über Verschwörungstheorien???
Ich glaube tatsächlich, dass wir die Ursache für die gestiegene Verbreitung von Verschwörungstheorien nicht in sozio-ökonomischen Umständen finden, die Verschwörungsglauben evtl. begünstigen.
Viel mehr wurde unsere Kommunikation miteinander über die letzten 2 Jahrzehnte komplett revolutioniert.
Die Art und Weise, wie sich Informationen heutzutage verbreiten, wie sich Menschen informieren, wie Menschen kommunizieren, ist vollkommen anders als sie noch vor 20-30 Jahren war.
Wem innerhalb dieser Kommunikationsmedien Aufmerksamkeit zukommt hängt von Algoritmen, vorraussichtlichen Klickzahlen und vielen weiteren Faktoren ab, die Blödsinn begünstigen.
Knapp 90% der deutschen finden die Coronamaßnahmen ausreichen oder wünschen sich noch strengere.
Bei wenigen Themen herrscht in Deutschland eine solche Einigkeit.
Trotzdem richtet sich die nationale Aufmerksamkeit ständig auf die 10%, die das ohne rationale Argumente anders sehen.
Die Welt und die BILD widmen diesen hirnrissigen Minderheitspositionen ihre Frontpages und auch seriöse Medien fühlen sich immer dazu hingerissen diese Themen aufzugreifen.
Während Corona sind diese alternativen Sichtweisen nun allgegenwärtig.
Früher war das nicht so. 1969 hätte kein Medium es für vertretbar gehalten Leute einzuladen, die die Mondlandung leugneten.
Nach 2001 wurden die Verschwörungstheorien auch nie als ernsthafte alternative Sichtweisen präsentiert.
Soziale Medien, Klick- und Engagement getriebener Journalismus, gesteuerte Misinformation, politisch geförderte Polarisierung.
All das sind Gründe für steigende Relevanz von Verschwörungserzählungen im öffentlichen Diskurs.
Uns stehen da komplizierte Debatten über Meinungsfreiheit und Medienkompetenz und Finanzierungsmodelle im Journalismus bevor.
Letztendlich sind aber massive Änderugen in diesen Bereichen nötig, wenn wir einen konstruktiven, demokratischen, öffentlichen Diskursraum erhalten wollen.
Ich hab das vor 2 oder 3 Jahren mal ausgeführt in einem kleinen Text.
SpoilerDie Rolle des Diskurses in der Demokratie
Jürgen Habermas’ Sprachphilosophie setzt einige Grundannahmen voraus. Zunächst nimmt Habermas an, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist. Es ist theoretisch in der Lage Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und mit Hinblick auf seinen sozialen Kontext und seine eigenen Interessen kritisch einzuordnen. Darauf basieren seine weitere Annahmen. So argumentiert er, dass jede Kommunikation Geltungsansprüche mit sich bringt. Die einfache Tatsache, dass kommuniziert wird, impliziert eine grundlegende Anerkennung des Gegenüber. Der Austausch von Informationen setzt voraus, dass der jeweils andere als Vernunftbegabtes Wesen mit validen Positionen angesehen wird, wäre das nicht der Fall hätte eine Debatte erst gar keinen Sinn. Die von Habermas definierten Geltungsansprüche sind:
- Verständlichkeit, die Annahme, dass die vom Sender beabsichtigte Information auch wie vorgesehen beim Empfänger ankommt und verstanden wird.
- Wahrheit, die Annahme, dass das Gesagte mit der objektiven Welt überein stimmt.
- Wahrhaftigkeit, die Annahme, dass die Kommunikationsteilnehmer eine Ehrlichkeit an den Tag legen.
- Richtigkeit, die Annahme, dass ein grundlegender Werte- und Normenkonsens besteht über den sich Diskussionsteilnehmer im Klaren sind
Diese Geltungsansprüche gilt es über den Diskurs zu erfüllen bzw. zu klären.
Diese theoretischen Ansätze führte Habermas 1992 in „Faktizität und Geltung“ am praktischen Beispiel des Staates aus und beschreibt hier sein Konzept einer deliberativen Demokratie. (Becker, M. 2007)
In dieser treffen im öffentlichen Diskurs freie und ehrliche Ansichten bzw. Argumente aufeinander, die sich auf Basis eines bestimmten und bekannten Wertekonsens, aneinander abarbeiten. Der Zugang zu diesem Prozess steht jedem offen und ist frei von Zwängen und sonstigen Einschränkungen. Möglichst zahlreiche Beteiligung von Mitgliedern der Gesellschaft, Bürger und Institutionen, ist wünschenswert und wird gefördert und darüber hinaus sollen Positionen von Mitgliedern, die ihre Ansichten nicht selbst einbringen können, rekonstruiert werden um auch berücksichtigen werden zu können.
Dieser Diskurs findet in der Öffentlichkeit statt und bildet sie ab, er soll in einem Rahmen ablaufen, der es ermöglicht den Konsens wachsen zu lassen und Dissens in der Debatte über Argumente aufzulösen. Habermas prägt hier die Phrase des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments.“
Mit steigender Diversität in den sogenannten „westlichen“ Demokratien und mit einer stetig steigenden Informationsbasis, die Positionen informiert, wird dieser Prozess des Diskurses immer wichtiger, da er die Kraft besitzt politische Kurse zu legitimieren. Stärker noch als Wahlen und Mehrheiten legitimieren, hat diese Art der Willensbildung die Möglichkeit zu Überzeugen und zwischen Perspektiven zu vermitteln. (Rosenberg, S., 2019, S.8)
Habermas’ Ausführungen beschreiben eine Idealsituation, die praktisch nie erreicht wird, aber dennoch angestrebt werden sollte.. Einer der zentralen Gründe warum dieses Ideal nicht erreicht wird, sind die verzerrenden Einflüsse von Machtstrukturen, die dazu führen, dass Akteure sich im Diskurs nicht auf Augenhöhe begegnen und ihre Positionen entsprechend unterschiedlich gewichtet werden bzw. verschieden große Reichweite haben.
Social Media und der Nutzer als Produkt
Als Soziales Netzwerk ist Facebook zwar eine öffentliche Plattform, aber letztendlich auch ein privatwirtschaftliches Produkt. Das zugrundeliegen Geschäftsmodell ist allerdings nicht der Verkauf oder eine sonstige Monetarisierung dieses Produktes - die Nutzung ist kostenfrei - sondern vielmehr das Ansammeln und kommerzielle Nutzen der Nutzerdaten. Dazu zählen auch jegliche Kommunikationen, die auf der Plattform statt finden - der Nutzer wird zum eigentlichen Produkt. Je eifriger die Social Media Plattform genutzt wird, umso umfassender sind hinterlassene Informationen, die dann wiederum einen Wert darstellen. Der britische Mathematiker Clive Humby behauptete 2006 im Zuge einer Promotion seiner Konsumentendatenanalysefirma Dunnhumby: „Daten sind das neue Öl. Sie sind wertvoll, aber können ohne Aufbereitung nicht genutzt werden. Öl muss verarbeitet werden [...] und genauso müssen Daten verarbeitet und analysiert werden um einen Wert zu haben.“ (Haupt, M. 2016)
Auch wenn dieser Vergleich von persönlichen Daten und einer Natur-Resource umstritten ist, dient er zumindest dazu den Wert von Daten zu betonen und den Umstand, dass der Wert erst dann entsteht, wenn die Daten angemessen aufbereitet und in Kontext gesetzt wurden um sie gewinnbringend nutzbar zu machen.
Die Nutzung findet in erster Linie im Kontext von Werbung statt. Datenmassen werden analysiert um Nutzerprofile zu erstellen, die anschließend einen effektiveren und zielgerichteteren „Beschuss“ der Nutzer mit Werbeinhalten ermöglichen. Aus Sicht der Betreiber ist eine Social Media Platform also ein Weg um Daten über Menschen zu sammeln um sie gezielter mit Werbenachrichten ansprechen zu können. Aus der Perspektive des Nutzers hingegen sind Social Media Plattformen ein Ort an dem soziale Kommunikation stattfindet, an dem ein Selbstbild für eine gefühlte Öffentlichkeit projiziert wird und an dem Information konsumiert wird. Genau wie das analoge soziale Umfeld hat Social Media seine eigenen Formen von sozialen Feedback Mechanismen(z.b Likes) und es konfrontiert Menschen über soziale Interaktionen mit Werten und Normen. Social Media sozialisiert also, allerdings findet das alles in einem technischen Rahmen statt, der diesen Sozialisationsprozess einem gewissen Bias unterwirf: Algorithmen bestimmen was gesehen wird. Im Grunde genommen passt sich das soziale Feedback Schrittweise dem Nutzer an, denn Kommunikation mit anderen Nutzer die zu einem positivem „Engagement“ führt wird gefördert. Der Nutzer schafft sich, durch eigenes Handeln und durch zutun von Algorithmen, seinen eigenen Diskursraum, der ihn mit positivem sozialen Reinforcement versorgt, egal welche Art von Kommunikation ausgesendet wird. Es entsteht eine sogenannte „Bubble“ und innerhalb dieser Bubble ist der Diskurs absolut individuell. Der Informationsmix, der gesehen wird ist persönlich angepasst, je reger das Nutzungsverhalten umso individueller die Anpassung der Inhalte.
Diese Umstände machen die Social Media Plattform zu einer besonderen Art von Blackbox in der große Teile des gesellschaftlichen Diskurses heute stattfinden.
Ihre zentralen Eigenschaften sind die Uneinsehbarkeit und die fehlende Reflexion und Archivierung, aus öffentlicher Perspektive, im Gegenzug dazu allerdings die die absolute transparenz und konstruktive Aufbereitung(Inbezugsetzung mit Metadaten) jeglicher Kommunikation, aus Sicht des Plattform Betreibers. Eine weitere zentrale Eigenschaft ist der Umstand, dass in Form von personalisierter Werbung ein Zusätzlicher potentieller Diskursteilnehmer vorhanden ist, der insofern einzigartig ist, als das er klassische Diskursteilnehmer individuell ansprechen kann, während er für andere unsichtbar bleibt, was zur Folge hat, dass sein Input keiner kritische Betrachtung durch eine Allgemeinheit unterzogen wird. Hinzu kommt, dass er in einer speziellen Machtposition zu den anderen Teilnehmern steht, da er auf einen massiven Informationsschatz zurückgreift.
Ob man Werbeschaltungen als Diskursteilnehmer definieren kann ist sicherlich fragwürdig,
allerdings basiert öffentlicher Diskurs in unserer heutigen Informationsgesellschaft so sehr auf eben
dieser Namensgebenden Information, dass personalisierte Werbung bzw. personalisierter Content, ebenso wie Medienanstalten und ähnliche Institutionen, meiner Meinung nach, eine wichtige Rolle in der öffentlichen Debatte spielen und durchaus als Diskursteilnehmer angesehen werden sollten.
Die Konsequenzen für die Demokratie
Eine Demokratie steht und fällt mit ihren Bürgern. Seit Anbeginn demokratischer Institutionen thematisieren demokratische Theoretiker Bedenken hinsichtlicher der Eignung der Bürger für die Verantwortung, die ihnen in solchen Systemen zu kommt. Bereits im 19. Jahrhundert erkannten einige, dass die breite Bevölkerung ein Bildungs- und Informationsdefizit hat, dass sie daran hindert politische Probleme in ihrer Komplexität zu verstehen und entsprechende Positionen einzunehmen. Damals wurden Bildung und Redefreiheit als Lösungsansätze für dieses Problem suggeriert. Ob diese Ansätze in ausreichendem Maße funktioniert haben ist Kern vieler Debatten.
So argumentierten Schopenhauer und Arendt, im Kontext des 2. Weltkrieges, das viele Bürger schlicht nicht die kognitiven Fähigkeiten hätten, die in einer Demokratie nötig wären. Sie seien gedankenlos, unsicher und ängstlich und damit anfällig für Populisten und Demagogen und autoritäre Rhetorik.(Rosenberg, S, 2019, S. 19) Trotz negativen Einschätzungen wie diesen hat die Demokratie seit dem 2. Weltkrieg eine Art Erfolgswelle erlebt und seit 2002 sind die Mehrheit aller Länder auf der Welt zumindest demokratisch verfasst. (ourworldindata: Number of Democracies) Fest steht allerdings, dass Demokratie der Bevölkerung einiges abverlangt und in großem Maße von der Beschaffenheit des öffentlichen Diskurses abhängt, ebenso wie von dem Fluss und der Qualität von Information in der Gesellschaft.
Gerade die letzten Jahren, in denen ein internationaler Anstieg von rechtem Populismus deutlich wurde, zeigen auf wie fragil der Ansatz Demokratie nach wie vor ist.
Fragt man Politikwissenschaftler und Soziologen nach den Ursachen für den Erfolg von rechtem Populismus, gerade jetzt, so hört man von ökonomischem Niedergang, wachsender Ungleichheit und demographischem Wandel. All diese Faktoren spielen sicherlich ihre Rolle, wenn es darum geht Trends bei den grundlegende politischen Einstellungen der Bürger nachzuvollziehen. Sie bilden aber vor allen Dingen die Angriffspunkte für Demagogen, die mit den Sozialen Medien einen disruptiven neuen Nährboden für ihre Propaganda haben, der ihnen oben genannte ungeahnte neue Möglichkeiten bietet. Gleichzeitig hinken rechtliche Rahmenbedingungen hinterher, denn die sind nicht an die Realitäten der neuen Kommunikationsräume und Wege angepasst und sie erfassen längst nicht alle Arten auf die hier Missbrauch stattfinden kann.
Letztendlich geht es um nicht weniger als die Funktionsfähigkeit liberaler Demokratien, die auf einen freien und einsehbaren öffentlichen Diskurs angewiesen sind und für die ein verdeckter Fluss von massenhafter höchstpersonalisierter Missinformationen eine existentielle Bedrohung darstellt.