Düstere Legenden
02.02.2009 um 18:00
DAS KIND
Sie wollte sich heute schon wieder ein Haus ansehen. Hoffentlich war es diesmal ein ordentliches Haus. Nicht so wie das letzte, das sie sich angesehen hatte, das überall Schimmel und Risse aufgewiesen hatte. Schließlich wollten sie bald, sehr bald, umziehen. Sie wollte raus aus der kleinen Wohnung, in der sie seit sechs Jahren lebten. Sie, ihr Mann und ihre zwei Töchter mußten damals notgedrungen in eine Wohnung ziehen, da sie das gemietete Haus nicht mehr haben bezahlen können. Das kam daher, daß ihr Mann arbeitslos wurde, und sie nun als Kassiererin in einem Supermarkt das Geld verdienen mußte. Sie bekamen zwar Arbeitslosengeld, aber das reichte nicht für alle vier. Nun, nach sechs Jahren, hatte sich ihr Mann wieder zu einem begehrten und teuren Rechtsanwalt hochgearbeitet. Er hatte vor einem Jahr seine eigene Kanzelei eröffnet, die sie von ihren gesamten Ersparnissen bezahlt hatten. Doch ihr Mann wurde häufig aufgesucht, wurde bekannt, und sie verdienten nun endlich wieder genug. Das letzte Jahr über hatten sie nur das Nötigste gekauft. Sie hatten fast gehungert, weil oft nicht genug zu essen im Haus war. Doch von ihrem gesparten Geld konnten sie sich nun das lang ersehnte, eigene Haus kaufen. Und seit etwa zwei Wochen sah sie sich ein Haus nach dem anderen an, aber bisher hatte ihr Keines gefallen. Sie hoffte dieses Haus, das sie nun angeboten bekommen hatte, würde besser sein.
Sie bog mit ihrem Kleinwagen links in eine Einfahrt ein. Sie war mit Kieselsteinen bestreut, und an beiden Seiten säumten gepflegte Rosen die Einfahrt. Von der Einfahrt konnte man den Garten sehen, der aus saftig grünem Rasen bestand und den Blütenblätter jeder nur vorstellbaren Farbe übersäten, die von den rund herum angepflanzten Blumen auf den Rasen wehten. Sie war von Anfang an fasziniert von diesem Grundstück, noch nie hatte sie sich in einem Garten so nahe der Natur gefühlt. Und sie liebte die Natur. Das gesamte Grundstück wurde von keilförmigen Blumenbehältern aus Ziegeln gesäumt, in denen hohe Palmen, mit Büscheln roter Blüten besetzte Azaleen und rosa und purpurnes Springkraut wuchsen. Die Einfahrt wurde vor dem Haus zu einem großen Platz, in dessen Mitte ein kleiner Brunnen stand; ab und zu plätscherte ein wenig Wasser auf die Kieselsteine.
Sie stieg aus ihrem Fiat und betrachtete das Haus, das sich vor ihr aufbaute: es war gepflegt, frisch getüncht, hatte große Fensterläden in Kontrastfarben, dazu hatte das Haus eine große Terrasse, die zum gepflegten Garten hinaus führte. Das Haus hatte einige Buntglasfenster und vor der Haustür, die einen Mosaikeinsatz hatte, war eine große Porch mit Kutschenlampen und Ziegeldach.
Sie streckte ihren Arm nach der Klingel, doch bevor sie sie betätigen konnte, öffnete ihr ein kleines, blasses Mädchen, das ein Nachthemd anhatte, obwohl es doch schon fast fünf Uhr war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, die eingefallen aussahen. Ihr stark schwarzes Haar stand in einem krassen Kontrast zu ihrer blassen Haut. "Äh...hallo", sagte sie; das Mädchen schaute sie erst ausdruckslos an, dann meinte sie: "Sie sind sicher Frau Hamm und wollen sich das Haus ansehen. Kommen Sie herein." Zögernd betrat sie die Eingangshalle. Rechts führte eine Treppe nach oben, links in der Ecke stand ein Kleiderständer und daneben war eine Holztür, die wohl zur Küche führte. Doch das Mädchen ging die Treppe hinauf, und sie folgte ihr. Die Treppe endete an einem langen Flur, von dem mehrere Zimmer abzweigten. Auf dem Boden lag ein langer, roter Teppich. Das Mädchen führte sie in das erste Zimmer. "Das ist mein Zimmer", behauptete das blasse Mädchen und zeigte mit dem Finger rundherum. Das erstaunte sie: das Zimmer war in allen Ecken mit Spinnweben behangen, und es gab keine Möbel mehr in dem Zimmer. Der Teppichboden war herausgerissen, nur ein hölzerner Schreibtisch stand noch vor dem Fenster. "Versprechen Sie mir", sagte das Mädchen, "wenn Sie das Haus kaufen, daß dieses Zimmer, das Kinderzimmer Ihrer Töchter wird."
"Woher weißt du, daß ich Kinder habe?" fragte sie erstaunt. Doch das Mädchen setzte sich auf den Schreibtisch und blickte zum Fenster hinaus.
Jetzt sah sie zum ersten Mal, daß das Gesicht des Mädchens eine lange Narbe an der rechten Seite aufwies. Sie führte vom Ohr bis fast zum Mund. "Hier saß ich oft", begann das blasse Mädchen wieder, "und habe einfach nur zum Fenster hinausgesehen. Habe geträumt, ich konnte stundenlang hier sitzen. Ich wünschte, ich könnte es wieder tun." Sie wollte etwas sagen, doch der Blick des Mädchens, der sie gerade traf, ließ sie verstummen. Sie drehte sich um und sah den langen Flur entlang, sah hinten ein großes Zimmer, das hell erleuchtet war. Sie drehte sich wieder herum und fragte: "Was ist mit dem..." Doch sie verstummte, denn das Mädchen war verschwunden. Es war einfach nicht mehr da. Vor einer Sekunde hatte es noch dort auf dem Schreibtisch gesessen, nun war es fort.
Mit dem Gedanken, sie könnte die Treppe hinuntergegangen sein, stieg auch sie die Stufen ins Erdgeschoß hinab. Unten kam eine ältere Frau aus der Küche. Sie erschrak, als sie sie die Treppe hinuntergehen sah. "Frau Hamm? Wie sind sie hier hereingekommen?" Sie stieg die letzten Stufen hinab, sah der Frau skeptisch in die Augen, da sie dachte, das Mädchen wäre von ihren Eltern beauftragt worden, ihr das Haus zu zeigen, doch dann erklärte sie: "Ihre Tochter hat mich hereingelassen. Sie zeigte mir einen Teil des Hauses. Eigentlich nur den Raum oben - rechts neben der Treppe."
Sie hielt inne, da sie bemerkte wie blass nun auch die Frau ihr gegenüber war. Sie musterte die Frau, bis sie das Schweigen brach und fragte: "Wie sah dieses Mädchen aus?" Wieder wußte sie nicht, was die Frau meinte. Mädchen? Aussehen? Was war hier los? Trotzdem beschrieb sie das blasse Mädchen: "Nun, sie war schlank, jung, etwa zehn Jahre alt. Sie hatte schwarze Haare, ein blasses Gesicht und trug ein...Nachthemd." Die Frau wurde noch blasser. Es schien, als sei das ganze Blut aus ihrem gebräunten Gesicht verschwunden. Sie setzte sich auf einen Schaukelstuhl, der nahe stand. "Unsere Tochter...ist...sie ist...vor einem Jahr bei einem schweren Autounfall gestorben!"