Der Fall Michael Jackson
05.12.2009 um 02:35
SchlagzeilenHilfeRSSNewsletterMobilWetterTV-ProgrammSamstag, 5. Dezember 2009
DER SPIEGEL
NACHRICHTENÜbersichtE-PaperVorabmeldungenTitelbilder
VIDEOTHEMENFORUMEINESTAGESENGLISHDER SPIEGELABOSHOPHome > DER SPIEGELLogin|Registrierung
26.10.2009Merken
LEGENDEN
Sie sind hinter mir her
Von Beier, Lars-Olav; Hujer, Marc; Oehmke, Philipp
Auf 15 000 Leinwänden in der ganzen Welt läuft ab dieser Woche ein Dokumentarfilm über die letzten Tage von Michael Jackson. Er entstand während der Proben für sein Comeback - und feiert einen Künstler, der längst ein Wrack war.
Das Büro von Dieter Wiesner ist ein schwarz möbliertes Hinterzimmer in einem Gewerbegebiet in Rodgau, Erdgeschoss, Gebäude 2F. Auf dem Boden liegt eine Kiste mit Michael-Jackson-Handtaschen und Michael-Jackson-Stöckelschuhen, Kunstleder made in Germany, geliefert aus der Türkei, die jüngste Ladung Memorabilia mit dem Schriftzug "King of Pop". Alle wollen noch einmal groß an Jackson verdienen. "Seit der Maikl tot ist", sagt Wiesner, "ist der größte Kostenfaktor weg."
In einer Glasvitrine steht eine Michael-Jackson-Porzellanstatue, angefertigt in Rumänien, ein Geschenk Wiesners zum 45. Geburtstag von Jackson. An den Wänden hängen Poster, "Dieter" steht handgeschrieben auf einem dieser Plakate, "Stop the tabloids"; auf einem anderen "You're the best! Michael". Stopp die Boulevardblätter. Du bist der Beste! Michael.
Auf einem Foto in einem Regal ist Jackson zu sehen, wie er 2002 an einem Fenster des Hotel Adlon in Berlin der Menge seinen Sohn zeigte. Jeder kennt diesen Moment des Wahnsinns, weil ihm damals fast das Baby aus den Händen rutschte, aber das Bild ist nicht wie die anderen von außen aufgenommen, sondern aus dem Zimmer heraus. Man sieht Wiesner, wie er direkt hinter Jackson steht.
Er war jahrelang Jacksons Geschäftspartner, später sein Manager und Berater. Und Wiesners Büro sieht aus, als hätte sich bis heute daran nichts geändert. Die Bilder, Büsten und Memorabilia zeigen die große, schöne Version von Michael Jacksons Leben, seine Erfolge, seinen Ruhm. Aber sie zeigen nicht den Michael Jackson, der starb, am 25. Juni dieses Jahres.
Von diesem Michael Jackson erfährt man, wenn Wiesner den Safe, der unter seinem Schreibtisch steht, öffnet. Dort hat er Dokumente gesichert aus seiner Zeit mit Jackson. Verträge, Videos, Tonbänder mit Telefonaten, rund 20 Stunden sind auf Band gesammelt. Man hört das Jammern Jacksons, das Flehen, die Verzweiflung, die Panik, Wiesner hat viele seiner Gespräche mit Jackson mitgeschnitten damals, weil er sich absichern wollte. Jackson konnte wankelmütig, vergesslich und ziemlich irrational sein, er war unberechenbar für Leute wie Wiesner, die Geld mit ihm verdienen wollten und seine Nähe suchten, und immer auch eine Gefahr.
Der Jackson in diesen Mitschnitten lebt in einer Welt der Paranoia. Manchmal rief er Wiesner nachts um halb fünf an: "Lass das System nicht zwischen uns kommen", flehte er dann. Und: "Sie sind hinter mir her, und hinter meiner Familie." Es sind Gespräche, in denen Wiesner gewarnt wird, niemandem zu trauen, nicht dem Kindermädchen, nicht den Leibwächtern, niemandem. Gespräche, in denen Jackson davon berichtet, Angst um sein Leben zu haben. Immer wieder spricht er davon, nie wieder live auftreten zu wollen. "Dieter", sagte er, "ich will mit 50 nicht mehr den Moonwalk tanzen."
50 Konzerte sollte es trotzdem in diesem und im nächsten Jahr in London geben, 50-mal wollte Michael Jackson den Moonwalk tanzen. Kurz vor der Premiere starb er in Los Angeles während der Proben an einer Überdosis starker Beruhigungs- und Narkosemittel. Sie haben ihn gefilmt in diesen Wochen, und die Aufnahmen, die damals entstanden, werden ab diesem Mittwoch in 15 000 Kinosälen auf der ganzen Welt gezeigt, allein in Deutschland sind es knapp 1000, es ist, als ließe Hollywood einen Riesenblockbuster auf die Welt los, aber in Wahrheit geht es darum, dass der Konzertveranstalter nach dem Tod von Michael Jackson sein Investment wieder reinholen will.
"This Is It" heißt der Film, und geplant ist, dass er schon an seinem ersten Wochenende weltweit mehr als 150 Millionen Dollar einspielt. Insgesamt ist wohl mit einer halben Milliarde zu rechnen. Zwei Wochen soll er nur laufen, niemand weiß genau, warum so kurz.
Der Hauptproduzent des Films ist der Konzertveranstalter AEG, die Anschutz Entertainment Group. AEG, das ist das Unternehmen, das die Shows in London produzieren wollte und nach dem Tod von Jackson auf ziemlich hohen Kosten saß. Sie haben sich schon bald nach seinem Tod die Aufnahmen gesichert.
Randy Phillips war der Konzertmanager für AEG, nun ist er der Hauptverantwortliche für den Film. Phillips hat früher auch einmal den Musiker Prince gemanagt, damals, als der noch ein Konkurrent von Jackson war. Er sagt, er habe den Film jetzt neunmal gesehen, und neunmal habe er geweint. "Man kann", sagt er, "Jackson bei seinem letzten Meisterwerk sehen. Es ist, als ob man Michelangelo dabei zuschaut, wie er die Decke der Sixtinischen Kapelle ausmalt."
Zwölf Songs singt Jackson in diesem Film, dazwischen gibt es Bilder, die ihn hinter den Kulissen zeigen. Ein paar dieser Aufnahmen wurden erst zwei Tage vor seinem Tod gedreht, und trotzdem gelingt es dem Film auf wundersame Weise, einen Michael Jackson voller Kraft und Energie und Tatendrang zu zeigen - die berühmten Michael-Jackson-Gesten, das Glitzerzeug. 120 Stunden Filmmaterial haben die Macher dafür durchforsten müssen. Die besten 112 Minuten haben sie genommen, 112 Minuten Michael Jackson als jene Zirkusnummer, die er eigentlich nicht mehr sein wollte.
Es ist Jacksons letzte Leibgarde, die hier ans Werk gegangen ist, Menschen wie der Regisseur des Films Kenny Ortega. Oder der Choreograf Travis Payne, der mit ihm für die London-Shows die Tanznummern einstudiert hat. Es sind Menschen, die sich vorgenommen haben, eine Fassade des strahlenden Popstars Michael Jackson aufrechtzuerhalten, die es längst nicht mehr gab. Sie müssen wissen, dass das, was sie über Jackson erzählen, nicht stimmt. Sie müssen sogar wissen, dass das Gegenüber weiß, dass das, was sie über Jackson erzählen, nicht stimmt. Sie wirken wie der letzte Regierungssprecher von Saddam Hussein, der "Comical Ali" genannt wurde, weil er bis zum Schluss behauptete, Saddams Truppen hätten die Amerikaner vernichtend geschlagen.
Also sitzen Kenny Ortega und Travis Payne vergangene Woche im Soho Hotel in London und kommen ihren Regierungssprecherjobs nach. Sechzig Fernsehinterviews hat Ortega in den letzten Tagen gegeben. Und die Leute hören ihm zu, denn er ist Amerikas Mann für die ganz großen Momente, für die Augenblicke, wenn es historisch wird: Er inszeniert Superbowl-Endspiele, Olympia-Eröffnungszeremonien, und er hat übrigens auch Michael Jacksons Trauerfeier im Staples Center von Los Angeles für die Welt in Szene gesetzt.
Bei diesen beiden Männern ist kein Durchkommen. Hatte Jackson Zweifel? "Er hatte nie Zweifel", sagt Payne. "Zweifel hielt Michael für schädlich."
Aber haben sie sich nicht manchmal Sorgen um Jacksons körperliche Verfassung gemacht? Er habe immer dafür gesorgt, dass ein Kühlschrank mit Früchten, Hühnchen und Salaten in der Nähe war, sagt Payne. "Michael konnte jederzeit zugreifen." Er habe sich darum gekümmert, dass Michael nicht dehydriere, erzählt Ortega.
Und Drogen, Medikamente? Ortega schüttelt den Kopf. Nein, nichts davon mitbekommen.
Dieter Wiesner, der Mann aus Rodgau bei Frankfurt am Main, gehörte früher auch einmal zu dieser Leibgarde. Er hat Jackson vor 15 Jahren kennengelernt, damals machte Wiesner Merchandising für Unternehmen wie Lufthansa, Mercedes, Red Bull. Wiesner wollte ihm eine neue Idee verkaufen, den "MJ Mystery Drink", eine Art Red Bull, das nicht nach Gummibärchen schmeckt, sondern nach Pfirsich.
Jackson mochte den Drink. 1996, zwei Jahre später, durfte Wiesner auf der Welttournee manchmal vorbeikommen, bald schon hatte er ein eigenes Gästehaus auf Neverland, Unit Number One, direkt am See, an dem die Kindereisenbahn vorbeifuhr. Im Jahr 2002 wurde Wiesner sogar Jacksons Manager, angeblich der Einzige in diesem Imperium, der Generalvollmacht bekam. Es ist eine bemerkenswerte Karriere vom Pfirsichgetränkverkäufer zum Manager des größten Popstars der Welt.
Dieter Wiesner, groß, untersetzt, grauer Bürstenhaarschnitt, Typ Goldkettchen, Mitte fünfzig, aufgewachsen bei Darmstadt, wirkt nicht wie der seriöseste Geschäftsmann.
Als er Zugang fand in das Universum von Michael Jackson, waren die ganz großen Zeiten eigentlich schon vorbei. Die Hits blieben aus, der Michael Jackson von 1994 erinnerte schon an eine Karikatur von Diana Ross.
Im Jahr zuvor, 1993, war ihm vorgeworfen worden, einen 13-jährigen Jungen sexuell missbraucht zu haben. Seit Jahren schon hatte er Kinder zu sich nach Hause eingeladen, alle glaubten, er meine es gut mit ihnen. Die Ermittler kamen schließlich zu Jackson, um seinen Penis zu fotografieren. Er sollte ein Beweisstück sein, der Junge hatte ihn genau beschrieben, beschnitten sei Michael Jackson, sein Penis habe Flecken an bestimmten Stellen, die Folge einer Hautkrankheit. Jackson stritt alle Vorwürfe ab.
Bevor es zu einem Prozess kam, zahlte er 20 Millionen Dollar an die Familie des Jungen. Jackson gab damals viel preis von seinen Problemen. Er berichtete, er nehme Medikamente, auf Empfehlung seiner Freundin Elizabeth Taylor hatte er in einer Schweizer Klinik einen Entzug begonnen.
Das System Michael Jackson hatte bislang auch deshalb funktioniert, weil er immer diese treu ergebene Entourage um sich herum wusste. Menschen, die unerschütterlich waren in dem Glauben an ihren Star und sich auch von den Pädophilie-Vorwürfen nicht beirren ließen.
Doch während der "HISstory"-Tour, vor allem während ihres zweiten Teils im Sommer 1997, war Jacksons gesundheitlicher, finanzieller und künstlerischer Niedergang auch für seinen engsten Kreis nicht mehr zu übersehen. Es gibt Tour-Tagebücher aus dieser Zeit, Organisationspläne und Berichte von Mitgliedern der Crew damals, die ein Bild eines Superstars im Zustand der Auflösung zeigen. Es sollte Jacksons letzte Tournee werden.
Alles musste noch mal größer und überwältigender werden als je zuvor. Jacksons letzte Single "Stranger in Moscow", die im Sommer 1997 doch noch in den USA erschienen war, erwies sich als Flop, Platz 91 in den Charts. Der "Earth Song", in Europa noch ein Hit, wurde in den USA schon gar nicht mehr veröffentlicht. Amerika wollte von seinem einst größten Popstar nichts mehr wissen.
Nun in Europa zählte die große Geste, die manchmal größer wurde, als das Budget es erlaubte, aber seine Manager fanden Wege, an zusätzliches Geld zu kommen, um die Tourneekosten zu decken. Sie verkauften beispielsweise jene knapp hundert VIP-Plätze, die eigentlich für Personal und Freunde vorgesehen waren, für 500 Euro oder mehr. Und weil Jackson einen Privatjet forderte, liehen sie sich, so erzählt es ein hochrangiges Mitglied der Crew, den von Silvio Berlusconi aus. Immer gab es einen Weg, Jackson glücklich zu machen.
Jackson hatte auch nach 1993 weiterhin Kinder nach Neverland eingeladen, hielt Händchen mit ihnen, schlief mit ihnen gemeinsam in einem Bett. Gleich bei der ersten Station des zweiten Tourneeteils in Bremen traf Michael Jackson einen Jungen aus Norddeutschland wieder. Jackson hatte ihn über den Vater kennengelernt, der in der Plattenindustrie tätig war. So oft wie möglich war der Junge auf der Tour dabei. Sie trafen sich in Hamburg oder Paris, und als es in München einmal zur Verabschiedung kam, weinten beide in der Tiefgarage des Hotels Bayerischer Hof.
Innerhalb der Crew kamen immer häufiger Fragen auf, was Jackson eigentlich mit all diesen Jungen mache und ob das irgendetwas Sexuelles sein könnte. In München kam es nachts um drei zu einer Krisenkonferenz der Crew. Was solle man machen, um diese Gerüchte in Schach zu halten? Einer schlug vor, diejenigen, die von sexuellem Missbrauch sprachen, einfach zu entlassen.
Jacksons körperlicher Zustand verschlechterte sich von Konzert zu Konzert. Den ersten Tiefpunkt erreichte Jackson in Wien, es war der 2. Juli 1997. Einer aus Jacksons Entourage, der dabei gewesen ist, berichtet, wie der Star aus Paris kam und am Flughafen von seinem Fahrer abgeholt wurde. Jackson stolperte mit glasigen Augen aus dem Jet. Er erkannte seine Crew nicht und wollte das Konzert absagen. Der Tourmanager, der Sicherheitschef und der Fahrer überredeten ihn schließlich aufzutreten, doch am Abend auf der Bühne des Ernst-Happel-Stadions bekam Jackson den Moonwalk nicht mehr hin. Und als er einen Song beendet hatte, sagte er ihn gleich noch mal an. Er hatte vergessen, dass er ihn gerade gespielt hatte.
Nach diesem Konzert war klar, es musste etwas passieren, am folgenden Tag kamen zwei Ärzte aus München, sie wurden auf keiner offiziellen Liste geführt, in den Hotels logierten sie unter den Pseudonymen B. Case und S. Case oder unter dem Namen Spare. Es sind Anästhesisten, Narkosespezialisten, kaum jemand in der Crew wusste, warum genau diese beiden Ärzte mit dabei waren.
Conrad Murray, Jacksons letzter Leibarzt und derjenige, dessen letzte Spritze, gefüllt mit dem Narkosemittel Propofol, schließlich Jacksons Tod herbeiführte, berichtet den Ermittlern des Los Angeles Police Departments, dass Jackson ihn um dieses Propofol gebeten habe, es sei, habe Jackson gesagt, "seine Milch" gewesen. Und er habe auch, berichtet Murray, gesagt, Propofol schon von anderen Ärzten bekommen zu haben, auch von deutschen, damals auf der Tour durch Europa. Propofol ist ein häufig benutztes Narkotikum, es wird bei Operationen benutzt. In kleineren Dosen entspannt und euphorisiert es nur, in größeren Dosen versetzt es den Patienten in tiefen Schlaf, er träumt dann angenehm und fühlt sich gut, wenn er aufwacht.
Die beiden Münchner Ärzte waren nun immer dabei, in ihrem Gepäck ein Pappkarton mit Medikamenten. Sie waren da, wenn Jackson nicht auftreten wollte oder apathisch war. "Die haben den rauf und runter gespritzt", sagt einer, der damals zu Jacksons engsten Kreis gehörte.
Die Ärzte waren auch dabei, als Michael Jackson nachts in Nizza über Zahnschmerzen klagte. Die Suche nach einem Zahnarzt dauerte lange, die Behandlung noch länger. Nach fünf Stunden holten der Fahrer und der Sicherheitschef ihn ab. Jackson stand an eine Wand gelehnt in einem Vorraum. Er konnte nicht gehen. Sie schleiften ihn die Treppe runter.
Im Auto kicherte Jackson vor sich hin. Er schien jetzt gut gelaunt zu sein, und als der Van in die Croisette einbog, bat Jackson den Fahrer, er möge das Dach öffnen. Er wolle seine Fans begrüßen.
Es war sechs Uhr morgens, da waren keine Fans, nur Straßenfeger, Lieferanten und Palmen. Jackson winkte aus dem Auto den Palmen zu.
"I love you all."
Die "HIStory"-Welttournee war ein Kraftakt, aber die Stadien waren nur selten ausverkauft. Die Idee, Michael Jackson als Künstler neu zu erfinden, war gescheitert.
Nun geriet Michael Jackson in einen Strudel aus Krankheit, Geldnöten und Prozessen, er endete damit, dass Jackson einen Vertrag für 50 Konzerte unterschrieb, die er nicht würde durchstehen können.
Als Dieter Wiesner Ende 1997 zum ersten Mal Michael Jackson auf Neverland besuchte, war er schockiert über seinen Zustand und auch ein wenig enttäuscht. "Ich konnte gar nicht fassen, wie dieser Mann im Schlabberpulli die Welt auf den Kopf stellen konnte", sagt Wiesner. Jacksons Ärzte waren jetzt immer bei ihm, auf der Ranch, in seiner Wohnung, 40 000 Dollar in der Woche, sagt Wiesner, hätten sie ihn gekostet. Jacksons langjähriger Geschäftspartner Myoung-ho Lee brachte ihn 1999 nach Seoul, um ihn dort zu entgiften, weil er auf einem Interkontinentalflug zusammengebrochen war. Sie konnten ihn entwöhnen, aber das Problem, sagt Lee, waren seine Schlafstörungen. "Er ist 48 Stunden am Stück wach und klappt dann zusammen."
Nachts kam Jackson zu Wiesner in das Gästehaus auf Neverland. "Man muss wissen, wie man mit ihm spricht", sagt Wiesner. "Man muss sein Interesse wecken, um ihn herumtanzen. Er sprach seine eigene Sprache", und er hatte ganze eigene Vorstellungen von einem Gespräch, das er oft so begann: "Dieter, give me good news."
Um die Jahrtausendwende wurde das Geld langsam knapp, doch noch bekam Jackson Kredite. Er verpfändete seinen Beatles-Musikkatalog. Mit dem neuen Geld kaufte Jackson alles, was er bekommen konnte, als wäre es das letzte Mittel, das ihm noch blieb, um Macht zu demonstrieren. Seinen Geschäftspartner Myoung-ho Lee wies er an, 150 000 Dollar an einen Voodoo-Priester in Mali zu überweisen, der 42 Kühe für ihn opfern sollte.
Doch schon 2001 hatte Jackson nicht einmal mehr das Geld, um ein neues Album zu finanzieren. Bei Sony, der Plattenfirma, nannten sie ihn nur noch "den Geldvernichter" und "das Millionengrab". Das Album "Invincible" verkaufte sich noch schlechter als erwartet, und als Sony sich weigerte, mehr Geld für die Werbung auszugeben, beschimpfte Jackson Sony-Music-Chef Tommy Mottola als Rassisten, der "sehr, sehr, sehr teuflisch" sei. Je weniger Geld reinkam, um so mehr Freunde und Partner verlor er. Sein Geschäftspartner Lee aus Korea verklagte ihn und auch der deutsche Konzertmanager Marcel Avram.
Doch Dieter Wiesner war noch auf Jacksons Seite, er sollte frisches Geld besorgen. Wiesner hatte viele Ideen, Jackson als Partner von Apple oder Mercedes, ein Neverland II in Las Vegas, ein Michael-Jackson-Wein. Die beste und passendste war vielleicht, beim Comic-Imperium Marvel groß einzusteigen. Wiesner nannte seinen Business Plan für Michael Jackson den "MJ Universe Plan", doch er durfte mit niemanden darüber reden, er und Jackson erfanden eine Art Geheimsprache, Dollar hießen ab jetzt nur noch "French Fries". Entwickelt hatte Wiesner den Plan zusammen mit Ronald Konitzer, einem Geschäftspartner, der früher mal in Berlin im Baugeschäft tätig war. Das waren die Leute, die Jackson neu erfinden sollten, ein Geschäftsmann aus Darmstadt und ein Bauunternehmer aus Berlin.
Die beiden schöpften Hoffnung, als es gelang, einen Deal mit Mercedes einzufädeln. Wiesners Idee war, dass im neuen SLK-Modell mit Umdrehen des Zündschlüssels Michael Jacksons Moonwalk auf dem Display zu sehen ist. Es ging um viel Geld, aber irgendwann wollte Jackson, dass Mercedes auch ein Modell nach ihm benennt. Es war klar, dass Mercedes das nie machen würde, aber was sollten die beiden ihm sagen, sie wollten den Deal retten, er brauchte das Geld. "Michael", sagte ihm Ronald Konitzer, sein neuer Wirtschaftsberater, "hast du alle Konsequenzen bedacht? Was passiert, wenn ein Auto mit deinem Namen ein Kind überfährt? Kannst du damit leben?" Jackson blieb dabei, der Deal platzte.
Wie konnten sie jetzt noch an Geld kommen? Jackson machte keine Musik mehr, es gab keine Einnahmen, sein Name verschwand aus den Schlagzeilen, sie mussten ein neues Image erfinden und kamen auf die Idee, das Fernsehen nach Neverland einzuladen, um zu zeigen, wie aus Michael Jackson, dem King of Pop, ein globaler Botschafter für Kinder geworden war.
Der britische Fernsehjournalist Martin Bashir kam nach Neverland. Der Film wurde eine Katastrophe für Jackson. Er zeigte ihn bei einer obszönen Shoppingtour in Las Vegas, wo er Millionen ausgab, die er gar nicht mehr besaß; er zeigte sich mit einem Jungen, er hielt seine Hand vor laufender Kamera und erzählte, sie schliefen zusammen in einem Bett. Jackson sagt in diesem Film: "Warum kann man sein Bett nicht mit jemandem teilen? Das Liebevollste, was man tun kann, ist doch, dass man sein Bett mit jemandem teilt."
Jackson taugte nicht mehr zum Werbemaskottchen. Er verstand die Welt da draußen nicht mehr, die Welt außerhalb von Neverland.
Und so kam es, wie es kommen musste: Ein halbes Jahr nach Ausstrahlung des Films im amerikanischen Fernsehen durchsuchten am 18. November 2003 mehr als 60 Polizisten und Ermittler der Staatsanwaltschaft von Santa Barbara die Neverland-Ranch. Der Junge aus dem Fernsehfilm hatte Jackson wegen Kindesmissbrauchs verklagt, und auch das gesamte Management wurde angeklagt. Doch die Polizisten trafen Jackson bei der Razzia nicht an.
Er war in Las Vegas, im Hotel Mirage. Er demolierte Möbel, schmiss den Frühstückstisch um, seine Kinder sagten kein Wort. Wiesner konnte ihn nur mühsam beruhigen. Der Manager des Mirage meldete sich: "Raus! Bitte bringen Sie ihn hier raus! Sonst lassen wir ihn rausbringen."
Wiesner buchte eine Suite im Caesar's Palace, aber als Jackson mit der Limousine vorfuhr, war plötzlich alles belegt. Der Jackson-Tross begann eine Odyssee, schließlich kamen sie im Ritz Carlton am Lake Las Vegas unter. Dort lernte Wiesner den radikalen Schwarzenführer Louis Farrakhan von der Nation of Islam und dessen Schwiegersohn Leonard Muhammad kennen. Wiesner holte Jackson, sie redeten über Jacksons Situation. "Sie wollten mit ihm beten, aber Michael wollte auf sein Zimmer", sagt Wiesner. Am nächsten Tag stellte sich Jackson der Polizei, er wurde in Handschellen abgeführt und kam noch am selben Tag gegen drei Millionen Dollar Kaution wieder frei.
Von da an, sagt Wiesner, war Jackson ein anderer Mensch. Die Weißen waren für ihn fortan der Teufel.
"Dieter", flüsterte Jackson. "Der Teufel hört zu."
"Was soll das, Michael?"
Jackson zeigte auf die Decke. Er war nicht verrückt geworden, aber die Nation of Islam hatte ihn offenbar umgedreht. "Der Teufel hört, was wir sagen. Er sitzt auf dem Dach."
"Nein, Michael, Schluss jetzt", sagt Wiesner. "Du glaubst also, du wirst abgehört? Keine Sorge, wir lassen den Raum durchsuchen." Das war es dann für Wiesner. Er wurde von einem Tag auf den anderen nicht mehr vorgelassen, kein einziger Anruf mehr, es war vorbei.
Jackson stand jetzt allein da, und er stand wegen der Anklage des Jungen aus dem Fernsehfilm vor Gericht. Der Prozess zog sich über eineinhalb Jahre hin. Immerhin, Tom Mesereau, einer der besten Strafverteidiger des Landes, hatte Jacksons Verteidigung übernommen, und am 13. Juni 2005 erreichte er einen Freispruch.
Es hätte jetzt alles besser werden können für Jackson, doch es wurde schlimmer. Er war inzwischen vollkommen paranoid. Zu einem Freund, dem Komiker Dick Gregory, sagte er: "Sie wollen mich töten. Ich kann nicht essen, sie versuchen, mich zu vergiften."
Jackson floh nach Bahrain, er hatte noch nicht einmal mehr Geld für ein Dach über dem Kopf. Scheich Abdullah Bin Hamad Bin Isa Al-Khalifa, der Prinz von Bahrain, nahm ihn auf und gab ihm einen Plattenvertrag, aber Jackson produzierte nichts und musste wieder fliehen, bevor der Scheich Geld wollte. Es ging nach Irland, von da aus nach New Jersey und schließlich nach Las Vegas, wo er eine Zehnzimmervilla westlich vom Strip mietete. Er hatte noch einmal neue Kredite bekommen.
Doch er musste ja die Alten abbezahlen und die Zinsen daraus, überall warteten offene, unbezahlte Rechnungen. Auch Wiesner verklagte ihn inzwischen auf 60 Millionen Dollar Schadensersatz wegen Geschäften, die nicht mehr zustande kamen. Am Ende einigten sie sich doch. Und eine Apotheke in Beverly Hills wollte ausstehende Rechnungen für Medikamente in Höhe von 101 926,66 Dollar einklagen. Jetzt drohte Neverland die Zwangsversteigerung.
Ein Unternehmen namens Colony Capital trat auf den Plan. Sie versprachen Geld, doch bestimmten einen neuen Manager. Er heißt Dr. Thome Thome, eine mysteriöse Figur, ein Geschäftsmann aus dem Libanon.
Thome war der Mann, der Jackson abwickeln sollte. Als Erstes ließ er Neverland ausräumen, den ganzen Kitsch aus zwei Jahrzehnten, Statuen, Spiele, Bilder, Teppiche und Antiquitäten, sogar einen Flugsimulator. Sechs Bände fasste der Katalog des Auktionshauses, eine Art Flohmarkt des Irrsinns, der Ausverkauf von Michael Jackson, das Ende eines Mythos. Und Thome hatte gute Kontakte zur Anschutz Entertainment Group, kurz AEG.
Jackson war jetzt reif für AEG, es beginnt das letzte Kapitel im Leben des Michael Jackson. Schon im Sommer 2007 wollte AEG den gefallenen Star dazu bringen, in der Londoner O2-Arena Konzerte zu geben, aber der sagte ab. Er wollte nicht mehr auftreten, und er konnte nicht mehr auftreten.
Doch nun, Anfang 2009, als erneut die Versteigerung von Neverland drohte, blieb Jackson kein Ausweg mehr, als den Deal von AEG anzunehmen: 50 Konzerte in acht Monaten. Mindestens 100 Millionen Dollar Ticketeinnahmen versprachen sich die Organisatoren.
Im Mai verschob die Konzertfirma den Start, es hieß, man benötige wegen der technischen Komplexität der Produktion mehr Zeit, aber natürlich gab es die Gerüchte über Jacksons Gesundheit. Von Angstzuständen und Alpträumen war die Rede und von Todesahnungen. Schon nach dem zweiten Probentag soll Jackson zusammengebrochen sein. Der US-Fernsehsender Fox News meldete: "Michael Jackson ist zum Skelett abgemagert und in so schlechter Verfassung, dass er möglicherweise nicht mehr genug Kraft für den Moonwalk hat."
Jackson war längst wieder abhängig von Medikamenten. In den Ermittlungsakten ist von neun verschiedenen Mitteln die Rede, die er in immer wilderen Mischungen zu sich nahm. Für die Rezepte verwendete er Decknamen, Jack London, Frank Tyson, Mic Jackson, Josephine Baker.
Am letzten Abend seines Lebens probte er in Los Angeles noch einmal sechs Stunden, eine Kostümprobe. Dann fuhr er nach Hause, Holmby Hills, und bat seinen Leibarzt Conrad Murray ans Bett. Murray hatte ihm in den letzten Wochen bereits jede Nacht das Narkosemittel Propofol gegeben, seine "Milch", verdünnt mit dem Betäubungsmittel Lidocain, diesmal versuchte er es zunächst ohne Propofol.
Nachts um halb zwei gab er Jackson eine Tablette Valium, aber Jackson schlief nicht. Danach bekam Jackson abwechselnd die Beruhigungsmittel Lorazepam und Midazolam. Jackson blieb trotzdem wach bis 10.40 Uhr, in Los Angeles war schon längst wieder der Tag angebrochen, schließlich verabreichte ihm Murray noch 25 Milligramm Propofol, verdünnt mit Lidocain.
Dann schlief Michael Jackson endlich ein und wachte nicht mehr auf.
LARS-OLAV BEIER, MARC HUJER,
PHILIPP OEHMKE
DER SPIEGEL 44 / 2009