@libertarian libertarian schrieb:Sicher liest man durch seine Brille, wie man im übertragenen Sinne sagt. Das ist aber noch nicht eigentliche Interpretation, da diese über das Wörtliche geht, will ich meinen
Ja siehst Du, und darin irrst Du.
Schon das Wörtliche ist eben nicht so wörtlich. Ich zeigs Dir.
Wenn nun jemand sagt, die Aussage, dass es ein eifersüchtiger Gott sei, sei gut oder schlecht, dann mag dies eine jeweils persönliche Wertung sein. Aber noch keine eigentliche Interpretation, da sich beide auf die gleiche Aussage bei ihrer Wertung beziehen, die sich glatt aus der Schrift herauslesen können.
Für Dich ist Interpretation erst, wenn etwas anderes herausgelesen wird, und das ist schlicht falsch. Es gibt durchaus verschiedene Formen der Auslegung, neben der Auslegung des Wortsinnes auch die eines übertragenen Sinnes, eines Symbolischen Sinnes. Frag snafu hierzu. Oder man kann den Zahlenwert der Buchstaben nehmen und mit dem anderer Vokabeln vergleichen und dies dann auslegen. Aber es gibt eben auch die Auslegung des wortwörtlichen Sinnes. Und die bezieht eben Stellung zu dem, was da steht. Wortwörtlich. Auch das ist Auslegung. Du nennst das "Brille".
Ich zitier mal Klaus Berger aus dem Vorwort seines Werks "Das Neue Testament und frühchristliche Schriften". Ich nehme Berger, weil seine Frühdatierung des Thomasevangeliums schon zur Sprache kam und seine Person dem einen oder der anderen so geläufig wie seine Auffassung genehm ist.
Welchen Äquivalenzbegriff man auch immer zugrunde legt: Diejenigen, die von einer Forderung nach Äquivalenz zwischen dem Ausgangs- undZieltext Ausgedrückten als dem Ideal einer "treuen" Abbildung des Ausgangstexts durch den Zieltext ausgehen, machen sich etwas vor: Schon innerhalb einer zeitlichen Epoche oder eines engeren Kulturraums kommt es einer Quadratur des Kreises gleich, wenn man den Ausgangstext, das heißt hier: den Wortlaut, die Formulierung des Ausgangstexts, "treu" abbilden und gleichzeitig seine Wirkung, Funktion, "Bedeutung" - oder wie man das, was sich bei der Lektüre im Bewußtsein des Rezipienten abspielt, auch immer nennen will - konstant halten will. Um wie viel mehr gilt das dann für Kulturen, die zeitlich und räumlich in großer Distanz zueinander stehen. Dieses Kunststück kann deshalb nicht gelingen, weil jedes "Verstehen" eines Textes, auch wenn er noch so vertraut erscheint - oder vielleicht gerade, weil er so vertraut erscheint - nicht "aus unserer Haut" herauskönnen, und diese Haut ein Produkt unserer kulturellen Sozialisation und Prägung ist. Texte aus fremden Kulturen meinen wir zu verstehen "wie sie sind", und verstehen sie doch in Wirklichkeit nur, "wie wir sind.
Diese Erkenntnisse über das Wesen des Verstehens, die sich in der Literaturwissenschaft beispielsweise als "Rezeptionsästhetik" niedergeschlagen haben, führten - zusammen mit einer Einbeziehung von handlungs- und kulturtheoretischen Modellen - zu einer "kulturellen Wende" in der Übersetzungswissenschaft etwa Ende der 70er Jahre dieses Jahrhunderts. [...]
Diese Auffassung ist also nicht einfach nur Bergers Sicht von Kommunikationsprozessen, sondern eine allgemeine Erkenntnis, die sich längst in verschiedenen Wissenschaftsbereichen niedergeschlagen hat.
Es gibt kein simples "Verstehen, wie es dasteht", sondern eben ein Interpretieren durch die "eigene Brille", nach dem eigenen kulturellen System von Begrifflichkeiten, Wertigkeiten und Wertungen. Manche können besser davon absehen und stärker den kulturellen Kontext des eigentlichen Textes berücksichtigen. Auch das wäre dann noch immer nicht "frei von Interpretation nach meinem Verstehenshorizont", aber hier wäre ich damit einverstanden zu sagen, das könnte man als "Lesen, was dasteht" bezeichnen und nicht als Interpretation.
Kayla jedoch, und das bestätigst Du sogar, hat den Texten ihr eigenes System von Wertigkeiten, Wertungen usw. übergestülpt und gemeint, dies sei "gemeint". Das, libertarian, ist ganz gewiß Interpretation. Interpretation dessen, was da steht, nicht erst Interpretation dessen, was zwischen den Zeilen steht oder im übertragenen Sinne oder als Buchstabenzahlenwert oder Bibelcode.
libertarian schrieb:Das aber beweist doch gerade erst, dass es nichts Sensationelles ist, was ein Gott da einführte, sondern etwas Menschliches, wie sie Produkte ihrer Zeit waren. Außerdem müssen diese Produkte der Zeit nicht eingefroren werden, wo sie doch heute mehr als obsolet sein müssten.
Das kannst Du gerne denen überlassen, die das so glauben wollen. Kayla möchte ja auch nicht, daß ihr jemand sagt, wie sie etwas zu sehen habe, das ihr als wahr oder bedeutsam gilt. Find ich gut - wenns nur für alle gälte.
libertarian schrieb:Außerdem wird es einer gesteinigten Frau ganz egal sein, in welchem kulturellen Rahmen und in welcher Epoche sie gesteinigt wird; der Schmerz wird ihr überall gleich bleiben. Die Freiheit, die man ihr nahm, hat man ihr überall genommen. Das Leben nahm man ihr überall.
Ja klar. Die Afghanen, die für die Verteidigung der Demokratie von tausende Kilometer entfernten Staaten erschossen wurden, sehen das sicher genauso - und dennoch find ich Demokratie gut, auch wenn Menschen dies mißbrauchen. Ich seh jedenfalls keinen Weg, daß Christen einen Weg hätten, die Steinigungsforderungen des AT für anwendbar zu halten (auch wenn ich weiß, daß es solche gibt, die das so sehen wollen). Und ich seh auch nicht, daß der Staat Israel oder einzelne jüdische Gemeinden, die durchaus an die Thora gebunden sind, solche Sachen wie ne Scharia aumsetzen. Und auch die Türkei hat die Scharia nicht im Gesetz und ist dennoch die bewußte und bejahte Heimat von millionen Muslimen. Religion ist immer in ihrer Zeit, obwohl ihre heilige Schrift auch in der Zeitgeschichte ist. Menschen, die sich an Veraltetes gebunden sehen, brauchen dazu keine Religion oder Schrift, die können sowas aber gerne mißbrauchen. Insofern weise ich Deine letzten drei Sätze aufs Entschiedenste ab.
libertarian schrieb:Schau, wenn man mit kulturellem Kontext argumentiert, dann kann man auch die Steinigungen im heutigen Iran als gar nicht so verwerflich ansehen.
Und dieser Satz ist schon kulturrassistisch. Die steinigen dort, weil sie in einer Kultur leben, wo das noch immer ein Wert ist, jemanden zu töten und sogar auf so brutale Weise. Hand abhacken, aufs Rad flechten, selbst die zivilisierten Römer hatten sowas grauenvolles wie das Kreuz. Die Kultur dort macht das, weil es zu dieser Kultur gehört. Leider, wie ich finde, für mich gehört sowas schleunigst überwunden. Aber es ist nun mal nicht mein Wertesystem, daher kann ich es nicht so verurteilen, wie ich das gerne täte. Klar könnten wir hingehen und den Leuten unsere Werte vermitteln. Freilich gibts dafür dann auch wieder Kritik "aus den eigenen Reihen", weil "wir" auch sonst schon so oft "eingeborenen Kulturen" unsere Werte aufgepfropft haben.
Und so argumentierst Du hier gerade. Du bewertest jene Kultur mit Deinen eigenen Werten. Kann ich verstehen, ich empfinde ja quasi gleich. Aber ich werd mir auf die Zunge beißen, bevor ich einer Kultur "Verwerflichkeit" vorwerfe - für etwas, das in meiner Kultur tatsächlich verwerflich wäre. Und wo ich es sofort anprangern würde.
libertarian schrieb:Dass dort Leute hingerichtet werden, die ihre bloße Meinung sagen. Ist halt eine andere Kultur.
Leider, LEIDER!!! Aber ja.
libertarian schrieb:Du wirst mir doch sicher zustimmen, dass es im Iran erhebliche Missstände gibt?
Mißstände gibts überall. Allerdings sind diese Mißstände eben nicht objektiv, sondern hängen an der "Brille" des Betrachters. Nachher würden sagenwirmal Chinesen an den Iranern ebenfalls Mißstände entdecken, jedoch nicht in ihrem Tötungssystem wie wir. Wer hat nun recht? Na wir natürlich! - Nee, das maße ich mir nicht an zu sagen, das glaube ich nur.
libertarian schrieb:Wenn, warum soll es dann nicht auch in der Bibel erhebliche Missstände geben?
Mag so sein. Aber wer entscheidet, welche das nach wessen Wertesystem dies sind?
Ich bin ja bereit, von Inkompatibilitäten zu sprechen. Also wenn die Todesstrafe im AT nicht zu der Kultur eines Christen paßt, er das AT aber für Teil seiner Heiligen Schrift hält, dann ist dieser Christ natürlich in der Forderung, sich mit dieser Inkompatibilität auseinanderzusetzen. Ist aber sein Problem, nicht Deines.
libertarian schrieb:Für mich ganz klar: Nur dafür, dass man den Gott des AT nicht Folge leistet oder ihn kritisiert, unabhängig von ihm werden will, von den eigenen Leuten erschlagen zu werden, das ist ein ziemlicher Missstand. Das ist eine Feudalherrschaft, nur auf sakraler Ebene begründet. Mit dem Gott des AT als Feudalherren.
Bezogen auf den Gott des AT, wo passiert denn sowas?
Und mal ganz theoretisch angenommen, das wär heut so passiert: Wenn das am Gott des AT liegen würde
und nicht an den Menschen, die sowas täten, wieso isses dann in Gott-des-AT-Verehrer-Kreisen nicht die Regel?
Mit Deiner gesteinigten Frau und dieser Schreckensszene machst Du die selben dreckigen Spielchen, die diese fanatischen Atheisten-Funktionäre in der DDR mit uns Christen in Verhören und an Schulen und sonsterwo gerne gespielt haben. Diese Erinnerungen werde ich wohl nie los, danke.
Pertti