Der Kultur-Clash im Nachbarland lenkte auch in der Bundesrepublik den Blick aufVerhältnisse, die viele bis dahin gern mit dem Schlagwort
„kulturelle Vielfalt“schöngeredet hatten: auf die schleichende Islamisierung in Randgebieten der Gesellschaft,auf Parallelwelten mitten in deutschen Städten. Und ironischerweise passierte all dasnoch bis vor wenigen Jahren mit tatkräftiger Unterstützung des Rechtsstaats und seinerDiener.
In vielen kleinen Urteilen kamen deutsche Richter, oft mit gutem Grund, denMuslimen im Land entgegen. 2002 entschied das Landesarbeitsgericht Hamm, dassGebetspausen während der Arbeitszeit zulässig seien, sie müssten allerdings mit demArbeitgeber abgesprochen werden. Ein Betrieb hatte einen muslimischen Arbeiter abgemahnt,weil der mehrmals pro Tag beten wollte. Der Arbeiter pochte mit Verweis auf dieReligionsfreiheit auf sein Recht.
Beim Schächten mussten deutsche Gerichtemuslimischen Metzgern in mehreren Verfahren Ausnahmen zugestehen: Schließlich dürfen jaauch Schlachter der jüdischen Religionsgemeinschaft rituell schächten. 2002 traf dasBundesverfassungsgericht diese Grundsatzentscheidung und erlaubte das Schächten nachmuslimischem Ritus, nachdem der
Metzger Rüstem Altinküpe aus Wetzlar geklagt hatte.
Auch in puncto Moscheebau haben Muslime deutsche Gerichte oft auf ihrer Seite.Nachbarn hätten es
„grundsätzlich hinzunehmen“, dass sie vor Sonnenaufgang gewecktwerden, entschied das Bundesverwaltungsgericht schon 1992.
Der Muezzin, der intraditionellen Moscheen fünfmal täglich vom Minarett zum Gebet ruft, kann meist ebensoauf die Regelungskompetenz deutscher Richter bauen und vertrauen. Versuche von Städten,dergleichen mit Hilfsargumenten zu unterbinden, hatten selten Erfolg. Im hessischenDillenburg etwa hatte das Landratsamt versucht, den Muezzin mit dem grotesken Verweis aufdie
Straßenverkehrsordnung zum Schweigen zu bringen: Das fromme Werben könneAutofahrer irritieren. Das Verwaltungsgericht Gießen hob die Entscheidung auf.
Theoretisch ließe sich der Lockruf des Orients in allen deutschen Kommunengerichtlich durchsetzen. Denn wo Christen bimmeln dürfen, müssen Muslime rufen können.
Schließlich gilt hierzulande der Gleichheitsgrundsatz auch für jene, die mitGleichheit wenig am Hut haben. Die meisten Moscheevereine verzichten aber freiwillig aufdieses Recht.
Auch auf Presserechtskammern können Muslime oft vertrauen: Absurd istetwa der Ausgang eines Rechtsstreits zwischen dem früheren Imam der Berliner Mevlana-Moschee, Yakub Tasci, und dem ZDF vor dem Landgericht Potsdam im Mai vorigen Jahres.
Richter Klaus Feldmann verbot dem Sender, den Vorbeter auf seinen Internet- Seitenals
„Hassprediger“ zu bezeichnen, obwohl der, wie das Magazin
„Frontal21“gezeigt hatte, in der Moschee Deutsche nachweislich sinngemäß als stinkende Ungläubigebezeichnet hatte. Tasci habe nicht von Deutschen, sondern allgemein von Atheistengesprochen und sich erst an anderer Stelle der Predigt über Hygiene und Schweißgeruchgeäußert, so das Gericht.
Heikel aber wird es bei Prozessen von grundsätzlicherBedeutung. Manchmal dilettieren die Instanzen der Republik dabei nur, wie imKopftuchstreit: Die badenwürttembergische Lehrerin Fereshda Ludin klagte sich 2003 bisvor das Bundesverfassungsgericht, weil sie mit Kopftuch
als Beamtin unterrichtenwollte. Das höchste deutsche Gericht entschied, Schulen seien Ländersache. Die Ländermüssten also entsprechende Vorschriften auf den Weg bringen. Das ist bis heute in vielenLändern nicht geschehen, die Debatte schwelt weiter.
Oft aber kommt Justitia denMuslimen entgegen und gestattet ihnen, was oft nicht einmal in der säkularen Türkeierlaubt ist. Schon 1984 gab das Verwaltungsgericht Wiesbaden der Klage einer Musliminstatt, die selbst auf Fotos für Ausweispapiere ihr Kopftuch aufbehalten wollte. In derUrteilsbegründung hieß es am 2. November 2004 in Amsterdam:
„Der Glaube schreibt derKlägerin vor, dass sie in der Öffentlichkeit eine Kopfbedeckung zu tragen hat.“ DasUrteil wird von Muslimen als Argumentationshilfe genutzt, obwohl es
nichtrechtskräftig ist.
Als eklatanter Sündenfall auf dem Weg zur rechtlichenAbsicherung islamischer Parallelwelten gilt Experten ein Urteil desBundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 993. Die Richter entschieden, eine 13-jährige Türkin sei vom Sport- und Schwimmunterricht zu befreien, wenn dieser nicht streng nachGeschlechtern getrennt angeboten werde.
(Der Burkini wäre da doch auch eineLösung, oder?)
Die Familie des Mädchens hatte argumentiert, das Kopftuchkönne ja verrutschen. Da half auch der – rückblickend geradezu prophetische – Einwand derSchulverwaltung nichts, Sonderrechte würden Klassenfahrten, Aufklärungsunterricht oderTheaterbesuche immer schwerer machen. Die Richter erklärten die Teilnahme amSportunterricht für „unzumutbar“. Sie entschieden zugunsten der Religionsfreiheitder Eltern und gegen die Entwicklungschancen und Freiheitsrechte dieses Kindes – undvieler anderer Kinder.
In einem ähnlichen Fall hieß es, es sei unerheblich, ob derKoran ein solches Verhalten tatsächlich vorschreibe, es reiche bereits eine gefühlteVorschrift, so die Richter. Man müsse sogar außer Acht lassen, dass dieseGlaubensregeln „nach westlichen Beurteilungsmaßstäben
einseitig zu Lasten derheranwachsenden Frauen“ gehen.
Eine Haltung, die sogar noch ein Jahr nach denAnschlägen des 11. September 2001 in deutschen Richterhirnen weiterspukte. Damalsentschied das nordrheinwestfälische Oberverwaltungsgericht, eine muslimische Schülerinder zehnten Klasse dürfe einer Klassenfahrt fernbleiben. Die Familie hatte vorgetragen,der Islam verbiete es, Mädchen ohne Begleitung eines
männlichen Familienmitgliedsmitfahren zu lassen. Überdies fürchte die Tochter ständig, ihr Kopftuch zu verlieren.Die Richter fanden, solcherlei Ängste seien mit der Situation einer „partiellpsychisch Behinderten vergleichbar, die behinderungsbedingt nur mit Begleitperson reisenkann“.
Die Einschätzung war grundsätzlich verheerend, weil sie die Regeln –tatsächlich – einer Kameltreibergesellschaft in der Moderne akzeptierte. Dennwenige Jahre zuvor hatte ein islamisches Rechtsgutachten als „Kamel-Fatwa“ Eingangin die Fachliteratur gefunden. Erstellt hat es der damalige Vorsitzende der IslamischenReligionsgemeinschaft Hessen, Amir Zaidan.
Der befand, eine Muslimin dürfe sich ohneeinen männlichen Blutsverwandten nur maximal 81 Kilometer von der ehelichen oderelterlichen Wohnung entfernen. Das nämlich ist die Entfernung, die eine Kamelkarawane zuZeiten des Propheten Mohammed innerhalb von 24 Stunden zurücklegen konnte.