Link: www.ruedigersuenner.de (extern) (Archiv-Version vom 22.02.2007)Die Geschichte zeigt, dass die Menschen die Archetypen bestenfalls weiterträumen undihnen neue Gestalt geben. Zwar lachen wir heute über "Engel" oder "Teufel", aberMillionen verehrten Lady Diana als "Lichtgestalt" oder gruseln sich wollüstig an"Hannibal, the cannibal". Was hier trotz aller überspannter Züge noch harmlos ist, kannim Sog psychotischer, nationalistischer oder fundamentalistischer Phantasmen zurKatastrophe geraten. Im Hintergrund der Völkermorde Ruandas und Serbiens standen ähnlicheMythen von "Reinheit" und "Auserwähltheit" wie beim Arier-Wahn der Nazis. Und auch derBerliner Polizist, der eine Prostituierte enthauptete, weil ihm dies angeblich dergermanische Gott Odin einflüsterte , war einem Archetyp erlegen: Ein geschwächtes undverwirrtes Ich wurde vom Bild des "Alten Weisen" überflutet, das ihn - hier in einerdämonischen Variante - zu exzessiven Taten trieb, an die er sich später kaum mehrerinnern konnte.
Die zunehmende Faszination an einem Phänomen wie Satanismus gehtin eine ähnliche Richtung. "Satan" und "Teufel" wurden von Aufklärung und Christentumverbannt, aber sie kehren mit unverminderter Kraft wieder. Sie sind keine lauenHirngespinste, sondern Verkörperungen eines besonders mächtigen Archetyps, den Jung den"Schatten" nennt: dunkle, unbearbeitete und verdrängte Seiten unserer Persönlichkeit undKultur, die vielleicht umso penetranter ans Tageslicht drängen, je mehr "Aufklärung" und"Rationalität" zu alleinigen Heilmitteln verabsolutiert werden.
GeradeJugendliche, die eher das Leidenschaftliche, Exzessive und Verbotene suchen, fühlen sichvon der "luziferischen" Komponente angezogen, weil sie eine Art Sammelbecken für allesTabuisierte, Sündhafte und Ausgegrenzte darstellt. Gefühle des Trotzes gegen Anstand,Moral und Vernunft können hier ausgelebt und provokativ gegen Eltern und Lehrer gerichtetwerden. Jammern und Mahnen hilft nicht nur nichts, sondern verstärkt eher die Lust amFlirt mit dem Obszönen und Schockierenden.
Deshalb muß ein anderer Umgang damit gesucht werden. Rudolf Steiner etwa hält das"Luziferische" für eine durchaus wichtige Kraft im Leben, die schon in jeder kindlichenTrotzreaktion durchbricht: Es ist nicht das schlechthin Böse, sondern eine Regung derIchkraft, die sich bemerkbar machen will. Auch jeder Künstler und Revolutionär, derFestgefahrenes durchbricht, gibt dem luziferischen Impuls nach, entfacht Feuer und streutSalz in die Wunden. Schädlich wird diese Energie erst im Übermaß und ohne Bezug zuanderen, bindenden Kräften. Das Element des Feuers, das Luzifer den Menschen brachte, istnichts an sich Verwerfliches, sondern sorgt - richtig angewendet - auch fürlebensspendende Kräfte wie Wärme und Nahrung. (R.Steiner: Das Mysterium des Bösen, hrsg.von Michael Kalisch, Stuttgart 1993)
Wie Steiner plädiert daher auch Jung fürIntegration statt Ausgrenzung von "Schatten"-Elementen wie Provokationslust,Zerstörungstrieb oder dem Bedürfnis nach Blasphemie, Exzentrik und Grenzüberschreitung.Als Psychiater kennt Jung den zuhörenden statt verurteilenden Umgang mit den Abgründender Seele und braucht sich nicht hinter rationalen, moralischen oder religiösenAbwehrhaltungen zu verstecken. Schon als Kind ahnte er, dass Christentum und Aufklärungkein vernünftiges Instrumentarium bereithielten, um mit diesen dunklen Aspektenfertigzuwerden. Vermutlich als Abwehr gegen frömmlerische Tendenzen des elterlichenPfarrhaushaltes hatte Jung bereits in jungen Jahren "luziferische" Träume und Visionen:Vorstellungen von unterirdischen Kulträumen unter grünen Schweizer Wiesen, wo auf einemThronsessel ein fleischerner Riesenphallus hockt, Mordphantasien vor dem Baseler Münster,wo er sich die schlimmsten Sünden vorstellt und erst bei dem Gedanken Ruhe findet, dassauch diese von Gott gewollt sein müssen:
"Zur 'Gotteswelt' gehörte alles'Übermenschliche', blendendes Licht, Finsternis des Abgrunds, die kalte Apathie desGrenzenlosen in Zeit und Raum und das unheimlich Groteske der irrationalen Zufallswelt.'Gott' war für mich alles, nur nicht erbaulich." (Aniela Jaffé: Erinnerungen, Träume,Gedanken von C.G.Jung, Zürich und Düsseldorf 1971, 77)
Integration des "Schattens"heisst also erstmal, ihn anzusehen und - ohne Wertung - als Teil der Gesamtpersönlichkeitzu akzeptieren. Jung spricht einmal davon, dass bei ihm die "Zwischenwände" zwischenBewußtem und Unbewußtem stets "durchsichtiger" blieben als bei anderen. Vielleicht istdies auch ein interessanter Rat für den richtigen Umgang mit den Archetypen, die ja einStück irrationale Natur im Menschen darstellen. Diese "Durchsichtigkeit" setzt jedoch eingekräftigtes Ich voraus, das die dünne Membran beherrscht statt von ihr beherrscht zuwerden. Vielleicht ist eine Gesellschaft gefeiter gegen den Mißbrauch von Mythen undArchetypen, wenn sie sowohl Ichstärkung als auch Durchsichtigkeit fördert. Das mag aufden ersten Blick widersprüchlich klingen, aber Ichstärkung bedeutet nicht rigide Härteoder ängstliche Abschliessung, sondern die Fähigkeit, so viel Divergentes undAmbivalentes wie möglichzuzulassen.
http://www.ruedigersuenner.de/drachen.html (Archiv-Version vom 22.02.2007)